Interview des Nachrichtenblogs »Die Freiheitsliebe« mit dem Bündnis Marxismus und Tierbefreiung

Das Portal für Kritischen Journalismus »Die Freiheitsliebe« hat ein Interview mit dem Bündnis »Marxismus und Tierbefreiung« geführt. Anlass für das Interview, das wir im Folgenden dokumentieren, bot die Veröffentlichung des Thesenpapiers »Marxismus und Tierbefreiung«. In dem Interview geht es u.a. um die Fragen, warum Marxisten und Tierbefreier sowohl theoretisch als auch politisch und organisatorisch einen »Bund fürs Leben« eingehen sollten und welche Rolle Tiere und ihre Ausbeutung in der kapitalistischen Wirtschaftsweise spielen.

[Hier geht's zum Interview auf der Hompepage der »Freiheitsliebe«]

Die Freiheitsliebe: Vor einigen Monaten habt ihr ein Papier mit 18 Thesen verfasst, die sich mit dem Zusammenhang von Marxismus und Tierbefreiung beschäftigen. Warum seht Ihr die Notwendigkeit, euch mit beiden Themen zu befassen?

Bündnis Marxismus und Tierbefreiung: Um diese Frage zu beantworten, müssen wir ein wenig ausholen. Für gewöhnlich ist es doch so: Der Impuls, sich dem Marxismus zuzuwenden, wird meist durch die Erfahrung ausgelöst, dass es in unserer Gesellschaft – salopp gesagt – nicht gerecht zugeht. Auf der einen Seite leben die Schaefflers, Bezos’, Buffets usw. in ihren Palästen in Saus und Braus. Auf der anderen Seite stehen die Ausbeutung von LohnarbeiterInnen und die Überausbeutung von Teilen der marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Armut nimmt zudem im real existierenden Kapitalismus vielerorts absurde Ausmaße an: Laut UN werden in diesem Jahr voraussichtlich 20 Millionen Menschen (sic!) in Gebieten wie Südsudan, Somalia, Jemen und Nigeria verhungern, während dutzende Millionen immer noch ihr Dasein als Sklaven oder in sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen fristen. Der ehemalige UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, hat zu Recht gesagt: »Wer jetzt am Hunger stirbt, wird ermordet.« Um diese buchstäblich irrationale Organisation der Gesellschaft zu verstehen, von der sehr Wenige sehr viel profitieren, bietet der Marxismus immer noch die beste Erklärung: Man kann den Wahnsinn mit Hilfe der marxschen Theorie begreifen und zugleich weiß man, was zu tun ist, um ihn zu beenden.

Mit dem Thema Tierbefreiung verhält es sich im Grunde sehr ähnlich. Die realen Beziehungen, in die Tiere in der kapitalistischen Klassengesellschaft gezwängt werden, können niemanden kalt lassen, dessen Herz nicht schon verhärtet ist. Jedes Jahr vermeldet das Bundesamt für Statistik neue Höchstwerte für die Fleischproduktion. 2016 wurden allein in der BRD knapp 60 Millionen Schweine und 3,6 Millionen Rinder geschlachtet. Lebewesen, die nachweislich intelligent sind, bewusst Erfahrungen machen, die hochgradig sozial handeln, die Schmerzen empfinden, die unter Ausbeutung und Herrschaft leiden können usw., werden zu hunderten Millionen jedes Jahr ohne Not und für den Profit einiger weniger getötet. Und damit haben wir noch gar nicht das Elend der Milchkühe, Legehennen, der Versuchs-, Zoo- und Zirkustiere angesprochen.

Nun ist es so, dass es zwar viele Vorschläge gibt, die Ausbeutung der Tiere auf den Begriff zu bringen. Sie wird von diversen AutorInnen aus einer um die Interessen der Tiere verkürzten Moral, aus dem speziesistischen Rechtsstatus der Tiere oder, was der Sache am nächsten kommt, aus der Herrschaft des Menschen über die Tiere abgeleitet. Diese verschiedenen Ansätze weisen aber allesamt einige Defizite auf. Zum Beispiel erklären die meisten Tierrechtler- und TierbefreierInnen die Ausbeutung der Tiere aus dem ideologisch-kulturellen Überbau der kapitalistischen Gesellschaft, obwohl Marx und Engels solche idealistischen Erklärungen widerlegt haben. Tiere und ihre Körper sind für das Kapital nur Waren und Produktionsmittel, und genau so werden sie auch behandelt. Was die einzelnen Wurstfabrikanten und Fleisch-Kapitalisten oder ihre Beschäftigten moralisch über Tiere denken, ist darum nicht das Entscheidende. Auch beuten nicht »die Menschen« »die Tiere« aus. Eine Fraktion der Kapitalistenklasse lässt die Tiere zu ihrem individuellen ökonomischen Vorteil ausbeuten.

Der historische Materialismus und die Kritik der politischen Ökonomie, wie Marx und Engels sie erarbeitet haben, ermöglichen uns eine präzisere Analyse der Tierausbeutung in unserer heutigen Gesellschaft und zeigen zudem, dass die Tierindustrie vor dem Hintergrund der Produktivkraftentwicklung vollkommen irrational- und massiv an der Zerstörung der Lebensgrundlagen auf der Erde beteiligt ist. Die Notwendigkeit, sich mit Marxismus und Tierbefreiung auseinanderzusetzen, rührt also erstens daher, dass die Aufrechterhaltung des Status quo schlicht keine Option ist. Zweitens bietet der Marxismus das beste Handwerkszeug, um die Ursachen der Ausbeutung von der Mehrheit der Menschen und von Tieren in der kapitalistischen Gesellschaft zu verstehen. Drittens hilft marxistische Gesellschaftstheorie dabei, eine geeignete Strategie zu entwickeln, die sich nicht nur auf eine bereinigte Sprache und einen tierfreundlichen Lebensstil beschränkt, und mit der sowohl die Menschen als auch die Tiere befreit werden können. Unser Thesenpapier ist ein Angebot an alle, die bereit sind, über dieses Ziel ernsthaft nachzudenken und zu diskutieren.

Die Freiheitsliebe: Ihr fordert, Marxisten und Tierbefreier sollten einen »Bund fürs Leben« schließen. Wie kann ein solches Bündnis aussehen?

Bündnis Marxismus und Tierbefreiung: Ja – wir schreiben, dass sie keine »Zwangsehe«, sondern eben einen »Bund fürs Leben« schließen sollten. Es geht also nicht darum, dass sie bloß punktuell kooperieren und ansonsten nichts miteinander zu tun haben, sondern es soll ein gemeinsames Projekt mit einer gemeinsamen inhaltlichen und politischen Agenda sein. So ein Bündnis sollte, grob umrissen, mindestens zwei Ebenen umfassen – eine theoretische und eine politisch-organisatorische.

Auf der Ebene der Theorie meinen wir, wie bereits angedeutet, dass Marxismus und Tierbefreiung ganz klar zusammengehören. Der historische Materialismus liefert eine konkrete und brauchbare Erklärung dafür, wie und warum sich Mensch und Tier im Laufe der Zivilisationsgeschichte unterschiedlich entwickelt haben – nämlich, weil der Mensch sich mittels gesellschaftlicher Arbeit aus der Natur herausarbeitet und den Unterschied zum Tier somit selber produziert. Daraus folgt eben wie gesagt auch, dass wir heute die kapitalistische Organisation gesellschaftlicher Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft betrachten müssen. Und hier meinen wir, dass die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie das geeignetste Mittel ist, um die kapitalistische Produktion von Fleisch, Milch, Eiern etc. zu analysieren. Die genannten in der derzeitigen Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung populären Erklärungsmuster für Geschichte und heutige Beschaffenheit des Mensch-Tier-Verhältnisses können so eine Erklärung nicht leisten. Deswegen formulieren wir im Thesenpapier jeweils eigene Kritiken dieser Ansätze und argumentieren für den genannten »Bund fürs Leben«. Für die Marxisten wiederum bedeutet all das dreierlei: Erstens, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Tierausbeutung historisch nicht nur nicht mehr notwendig ist, sondern auch umfassende Destruktivkräfte entwickelt. Zweitens, dass Mensch und Tier eine gemeinsame Geschichte haben, die Fähigkeit teilen, zu leiden – und es für Marxisten als historische Materialisten also keinen vernünftigen Grund gibt, das Leid der Tiere nicht ebenso abschaffen zu wollen wie das des Proletariats. Drittens müssen sie zur Kenntnis nehmen, dass die Tiere ebenso wie die Natur und die Arbeitskraft vom Kapital vernutzt bzw. ausgebeutet werden, um Mehrwert zu produzieren, auch wenn sich die Ausbeutung qualitativ unterscheidet und die Natur im Allgemeinen und die Tiere im Besonderen »lediglich« das Material zur Mehrwertproduktion sind. Daher haben die Natur und die Tiere objektiv den selben Gegner wie die Arbeiterklasse: die Bourgeoisie.

An diese theoretische Ebene würde die politische und organisatorische anschließen: Marxisten und Tierbefreier sollten die inhaltlichen Einsichten als Grundlage für ein gemeinsames politisches Projekt nehmen und eine Diskussion über gemeinsame Strategie und Taktik sowie ein gemeinsames Agieren führen. Denkbar wären etwa Kampagnen gegen die Fleischindustrie, verbunden mit der Forderung, sie in ökologisch nachhaltig und vegan produzierende, kollektiv von den ArbeiterInnen verwaltete Betriebe zu überführen. Und mit diesem gemeinsamen Projekt ginge dann die organisatorische Ebene einher: Es muss eine Organisationsform gefunden werden, in dem sich das gemeinsame Projekt abbildet und manifestiert.

Es geht also letztlich darum, ein gemeinsames öko-marxistisches und kommunistisches Projekt auf die Beine zu stellen. Dass wir von einem solchen Bündnis natürlich noch meilenweit entfernt sind, braucht man uns nicht sagen. Wir sehen es jedoch als notwendig an, und sehen auf kurz oder lang keine Alternative dazu.

Die Freiheitsliebe: Ihr beschreibt die enormen materiellen Interessen, die die Nahrungsmittelindustrie hat. Die wenigsten Marxisten würden sich gegen deren Enteignung stellen, aber was geschieht danach?

Bündnis Marxismus und Tierbefreiung: Die Strategie lässt sich gar nicht rigide in ein zeitliches »Vorher« und »Nachher« einteilen, zumindest nicht, wenn wir Rosa Luxemburgs Idee einer »revolutionären Realpolitik« ernst nehmen. Wir müssen bereits heute diskutieren, was wir wirklich brauchen und was wir wie produzieren wollen. Niemand in der Linken würde beispielsweise ernsthaft fordern, dass in enteigneten Betrieben Frauen und Migranten nur die Drecksarbeit machen sollen, dass wir einfach weiter dicke Autos und anderen Müll herstellen, dass wir Energie aus Kohle- und Atomkraftwerken beziehen, Monokulturen anlegen und acht Stunden am Tag schuften gehen. Die Verstaatlichung, Enteignung oder Vergesellschaftung an sich macht noch keine Produktionsweise, in der alle nach ihren Bedürfnissen und jeder nach seinen Fähigkeiten lebt und arbeitet.

Für uns ist klar: Eine Gesellschaft, in der Tiere getötet werden, damit wir ihre Körperteile essen können, ist keine befreite. Ganz zu schweigen davon, dass die Fleischproduktion, wie bereits gesagt, vom Stand der Produktivkräfte aus betrachtet schlicht unnötig ist. Es können schon heute genug vegane Nahrungsmittel für alle hergestellt werden. Die Nahrungsmittelindustrie müsste also nicht »nur« von den Produzenten kontrolliert, sie müsste auch einer Konversion unterzogen werden und zwar vom Anbau bis zu Verteilung. Die Idee der Friedensbewegung, die Rüstungsbetriebe einer Konversion zu unterziehen, lässt sich wunderbar auf die Fleischindustrie übertragen. Dies ist wiederum bei der Fortexistenz des Privatbesitzes an Produktionsmitteln nicht realisierbar. Wir können nichts umbauen, was uns nicht gehört. Da die Nahrungsmittelindustrie zu den sogenannten Schlüsselindustrien zählt – alle Menschen müssen nun einmal essen und trinken – ist es naheliegend, dass man mit ihrer Vergesellschaftung beginnt. Dann könnten wir auch das Essen von Medikamenten, Gentechnik usw. befreien, die wir jetzt täglich aufnehmen.

Die Freiheitsliebe: In Eurer neunten These heißt es, dass das Mensch-Tier-Verhältnis »das Ergebnis eines Zivilisationsprozesses, in welchem sich der Mensch durch die gesellschaftliche Arbeit aus der Natur herausarbeitet und damit den Unterschied zu nichtmenschlichen Tieren selber produziert« habe. Aber historisch gesehen haben Menschen schon immer Tiere gegessen. Wollt Ihr dies verhindern oder wollt ihr vor allem das Verhältnis verändern?

Bündnis Marxismus und Tierbefreiung: Naja – für oder gegen was ist die Feststellung, dass Menschen etwas »schon immer« getan haben, denn ein Argument? Menschen haben ja auch schon vor dem Kapitalismus Kriege geführt und es gibt auch bis heute immer noch ein Patriarchat, und trotzdem wollen wir als Marxisten das ändern, oder nicht? Wir wollen beides: Das Verhältnis von Menschen und Tieren verändern, und – als Bestandteil dessen –den Konsum von Fleisch und anderen Tierprodukten beenden – auch um der Tiere Willen. Allerdings wollen wir das nicht nur aus moralischen Gründen, sondern wir halten die gegenwärtige real existierende Fleischproduktion insgesamt für objektiv irrational: Sie ruiniert ja nicht nur die Proletarier, die in ihr arbeiten (z.B. durch prekäre Billigjobs, Überausbeutung und rigoroses Vorgehen gegen gewerkschaftliche Organisierung), sondern auch die Natur, etwa durch Abfälle und CO2-Ausstoß. Sie ist also ein Hindernis für die weitere Entwicklung der Menschen. Darum sehen wir unsere marxistischen Genossinnen und Genossen in der Pflicht, eine politische Position zur Fleisch- bzw. Tierindustrie einzunehmen. Und wir meinen eben: Sie ist ein Hindernis für eine tatsächliche (sozialistische) Zivilisationsgeschichte und muss in ihrer jetzigen Form abgeschafft werden.

Die Freiheitsliebe: In eurem Text beschreibt Ihr, dass sowohl Tiere als auch Arbeiter ausgebeutet werden, welche Parallelen und welche Unterschiede seht ihr?

Bündnis Marxismus und Tierbefreiung: In unseren Thesen elf und fünfzehn versuchen wir die Differenzen in der Ausbeutung des Proletariats und der Tiere zumindest grob zu benennen. Während die Arbeiter politisch formal »frei« sind – als doppelt freie Lohnarbeiter – sind die Tiere nicht politisch als Individuen anerkannt. Die Lohnabhängigen verkaufen ihre Arbeitskraft an Kapitalisten und bekommen dafür einen Teil des von ihnen produzierten gesellschaftlichen Produkts in Form von Lohn, mit dem sie ihr Überleben oft mehr schlecht als recht sichern können. Die Tiere sind qua kapitalistischer Eigentumsverhältnisse als Produktionsmittel wie die Natur insgesamt Privateigentum der Kapitalisten. Diese können nach Belieben über sie verfügen.

Diese nicht unbeträchtliche Differenz in der Stellung im Produktionsprozess führt dazu, dass sich die Kapitalisten das Mehrprodukt der Arbeiter aneignen können, während die Tiere vollumfänglich in den Produktionsprozess eingehen. In Upton Sinclairs Roman »Der Dschungel« über die größten Schlachthäuser Anfang des 20. Jahrhunderts in Chicago wird der Protagonist des Romans, ein litauischer Einwanderer, gleich zu Beginn seiner Arbeit in den gefürchteten Stockyards darüber in Kenntnis gesetzt, dass vom Schwein »absolut nichts unverwertet« bleibe – »bloß für das Quieken hat man noch keine Verwendung gefunden«.

Ihre unterschiedlichen Positionen im Produktions- und Ausbeutungsprozess führen auch dazu, dass die Tiere zwar Produkte ko-produzieren, ja sogar zum Teil der Waren werden. Dennoch leisten sie keine produktive Arbeit im Sinne der Wertproduktion. Sie liefern »lediglich« Gebrauchswerte der Waren und zwar gratis. Sie produzieren jedoch keine Werte wie die Lohnarbeiter. Dies ändert aber nichts daran, dass beide, wenn auch qualitativ unterschiedlich, von Kapitalisten ausgebeutet werden.

Die Rollenverteilung zwischen Tieren und Proletariat ist das vorläufige Zwischenergebnis der Klassenkämpfe. Dass die Rollen auch in zukünftigen Klassenkämpfen unterschiedlich gelagert sind, liegt auf der Hand. Tiere sind weder eine Klasse noch sind sie Subjekte des Klassenkampfs. Aber wir bestehen darauf, dass die Tiere ebenso wie die Natur Objekte des Klassenkampfs und der sozialistischen Revolution sind. Ohne ihre Befreiung ist Sozialismus bzw. Kommunismus nicht zu haben

Die Freiheitsliebe: Danke euch für das Gespräch.


Veröffentlicht am 30. Juli 2017 in den Kategorien: Allgemein