Begrüßungsansprache Herbstakademie 2013

Industriesoziologen und Arbeitgeberverbände, Stadtplaner und linksradikale Aktivisten, Automobilkonzerne und Stadtteilinitiativen, Wissenschaftsverbände, kommunistische Parteien und viele mehr – es gibt kaum noch Gruppen und Institutionen, die sich dieser Tage nicht mit der ökologischen Krise, dem „Wachstumsdilemma“, der Naturfrage – kurz: mit dem Verhältnis von Gesellschaft, Natur und Kapitalismus – befassen.

Das gilt auch für das Thema „Ernährung“. Die sogenannten Lebensmittelkrisen der vergangenen Jahre haben nicht nur die Absurditäten der modernen kapitalistischen Lebensmittelproduktion offengelegt. In den Debatten um sogenanntes Gammelfleisch, Pferdefleisch im „echten“ Fleisch und dioxinverseuchte Eier wurde auch das maßlose Leiden der Tiere thematisiert, das diese Produktion mit sich bringt. Nicht wenige Debattenbeiträge über die europäische oder globale Fleischindustrie haben gleich die Frage aufgeworfen, ob der extreme Konsum tierischer Produkte ethisch, sozial und ökologisch überhaupt tragbar ist.

Man darf das alles nicht überbewerten. Weltweit hat der Fleischverbrauch seinen historischen Spitzenwert erreicht, und er steigt weiter an. Grüner Konsum ist noch lange keine oppositionelle Politik, und von dem massiven Ausbau veganer Infrastruktur profitiert erst einmal vorwiegend die mittelständische Vollkornbourgeoisie der westlichen Metropolen. In Städten wie Berlin, Hamburg oder Leipzig boomt das vegane Geschäft – für viele ist das aber zunächst nur Lifestyle und völlig unpolitischer radical chic. Trotzdem: Die Bedingungen für Tierrechts- und Tierbefreiungspolitiken sind heute andere als noch vor zehn Jahren, weil es eine ganz andere Öffentlichkeit und Empfänglichkeit gibt für die Argumente und Anliegen sowohl von ökologischen als auch von tierrechtsbewegten Organisationen. Dass es einen Zusammenhang zwischen dem weltweiten Fleischkonsum, der Abholzung der Regenwälder und kapitalistischen Wachstumsimperativen gibt, kann man mittlerweile sogar auf Spiegel Online lesen. Und so etwas wie den Fleischatlas, den die Böll-Stiftung, die Le monde diplomatique und der BUND dieses Jahr publiziert haben, hätte es 2003 nicht in der vorliegenden Form und nicht mit dem medialen Echo gegeben. Für die Tierbefreiungs- und Tierrechtsbewegung wäre das also insgesamt gar keine so schlechte Situation, ihr Anliegen an prominenter Stelle vorzutragen und die Möglichkeiten auszunutzen, Tierausbeutung breiter und radikaler zu thematisieren. Sie könnte sich mit ökologischen und kapitalismuskritischen Gruppen zusammentun und eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft fordern. Die Zusammenarbeit der kapitalistischen Eliten der diversen Industrie- und Handelsunternehmen funktioniert ganz vortrefflich, wenn es sein muss – Grund genug also, dass ihre Gegner sich um eine nicht minder schlechte Zusammenarbeit bemühen.

Das passiert aber nicht – und die Frage ist, warum. Zum einen kann man nicht sagen, dass die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung über so etwas wie ein politisch-theoretisches Selbstverständnis, eine Agenda, verfügt, von dem aus sie selbstbewusst auf andere soziale Bewegungen zugehen könnte. Die Bandbreite vertretener Ansätze reicht ja von bürgerlicher Ethik bis zum „autonomen Antispeziesismus“, und entsprechend variieren auch die Vorstellungen über politische Arbeit. Von so etwas wie einem etablierten Standpunkt in der Bewegungs- und Parteienlandschaft der Bundesrepublik kann also nicht die Rede sein, zumal die Tierbefreiungsbewegung historisch gesehen noch ziemlich jung ist.
Zum anderen hat der Tierbefreiungsgedanke auch unter linken Bewegungen keinen leichten Stand. Wer sich für die Belange der Tiere einsetzt, gilt oftmals als romantischer Naivling, der seine Energie doch besser für „echte“ Probleme nutzen sollte. Als Einstieg in die sogenannte linksradikale Szene ist die Tierbefreiungsbewegung ein gerne gesehener Durchlauferhitzer – irgendwann, so das unausgesprochene Urteil, sollte man sich aber ernsthaften Problemen zuwenden. Wer sich als Tierbefreiungsaktivist beispielsweise an gewerkschaftlicher Arbeit und Arbeitskämpfen beteiligt, macht das aus Sicht der meisten Linken nicht weil er für die Befreiung der Tiere ist, sondern obwohl er für die Befreiung der Tiere ist. Man freut sich über Beteiligung und Unterstützung aus verschiedenen Lagern – so richtig ernst nehmen will man diese Antispe-Leute, ihren Tierfimmel und ihre Essgewohnheiten aber nicht.

Die Vereinigung von revolutionärer marxistischer Theorie und dem Tierbefreiungsgedanken war und bleibt das zentrale Gründungsmoment von Assoziation Dämmerung. Wir wollten weg von den szenelinken Kinderkrankheiten und uns um eine antikapitalistische Politik bemühen, die die Tiere ernsthaft mit einbezieht. Das Politikkonzept der autonomen Szene halten wir für historisch überholt. Linke und revolutionäre Politik muss mehr sein als das bloße Nebeneinander verschiedener sozialer Bewegungen und revolutionäre Theorie mehr als die Verkettung diverser Anti-Ismen.

In diesem Sinne liegen den heutigen Workshops drei Thesen oder zentrale Annahmen zugrunde:

Erstens, dass es keinen brauchbaren Antispeziesmus geben kann, der nicht historisch-materialistisch ist. Das heißt, dass wir nicht bei oberflächlichen Beschreibungen eines Verhältnisses stehen bleiben sollten, sondern nach den historischen Grundlagen der Mensch-Tier-Beziehung fragen müssen. Dazu ein Beispiel: Es stimmt ja zweifelsohne, dass die Figur des Tieres in der westlichen Kulturgeschichte als Teil der Natur den Gegenpol zur Kultur bildet. Das androzentristische und rationalistische Weltbild der Aufklärung verdrängt das Tier endgültig aus dem Kreise derer, die man für leidensfähig und vernunftbegabt hält. Den Tieren ebenso wie den Frauen schreibt sie das Affektuelle, die Empathie und die Schwäche zu. Man kann dann von da aus alle möglichen kulturkritischen Querverweise zwischen der Ausbeutungsgeschichte der Tiere und anderen Formen der Unterdrückung machen: Zwischen patriarchaler Herrschaft und Tierausbeutung, zwischen Homophobie und Tierausbeutung, zwischen moderner Subjektivität und Tierausbeutung und so weiter. Um diese Verweise bemühen sich einige Texte aus der autonomen Antispe-Szene.

Aber: Es macht einen Unterschied, ob man diese Verbindungen von Unterdrückungsverhältnissen lediglich präzise beschreibt, oder ob man etwas zu ihrer Erklärung beitragen kann. Wieso ist denn die Natur der Gegenpol zur Kultur, und woher kommt diese Trennung? Der historische Materialismus stellt die Arbeit als zentrales vermittelndes Moment zwischen Mensch und Natur heraus. Der Mensch ist also ein Naturwesen, das sich im Laufe seiner Zivilisationsgeschichte aus der Natur herausarbeitet, sich also sozusagen selber domestiziert und die Tiere dabei brutal beiseite schiebt. Die Tiere werden als das verachtet, was der Mensch selbst einmal war. Wenn Marx schreibt, der Mensch sei ein „tool-making animal“ und wenn Adorno an anderer Stelle schreibt, Mensch und Tier seien durch Vergangenes eins, dann liegt genau darin das Fundament für den Antispeziesmus, den wir brauchen.

Die speziesistische Ideologie ist also nicht darum abzulehnen, weil die kulturgeschichtliche Figur des Tieres, die uns auch heute in den Medien und der Kulturwissenschaft begegnet, nur ein Konstrukt oder falsches Denken wäre. Sie ist abzulehnen, weil die Trennung des Leidens von Mensch und Tier, die ihr zugrunde liegt, zivilisationsgeschichtlich unhaltbar ist. Daraus müssen wir die richtigen Schlüsse ziehen.

Das heißt aber zweitens auch, dass jeder historische Materialismus unvollständig ist, der diese Verbundenheit von Mensch und Natur, und auch von Mensch und Tier, nicht zur Kenntnis nimmt. Hier müssen wir die große Mehrheit der traditionellen marxistischen und kommunistischen Linken kritisieren. Man kann schlichtweg nicht historischer Materialist sein und ignorieren, dass Mensch und Tier eine gemeinsame Geschichte haben, die uns die Ignoranz gegenüber dem Leiden der Tiere verbietet. Es ist völlig klar, dass die Befreiung der nichtmenschlichen Tiere bisher kein zentraler Topos des Marxismus war. Es gibt aber auch nichts im Fundus marxistischer Gesellschaftskritik, was der Vereinigung von Marxismus und Tierbefreiung entgegensteht. Im Gegenteil: Man denke an Max Horkheimers Bild der kapitalistischen Moderne als Wolkenkratzer, in dem die Knechtung der Tiere als Fundament der bürgerlichen Gesellschaft herhalten müssen, oder die zahlreichen Anmerkungen Rosa Luxemburgs über ihr Mitgefühl mit den Tieren. Auch im Werk von Marx und Engels selbst gibt es viele Analogien und Erkenntnisse, die eine kritische Beschäftigung mit der Mensch-Tier-Beziehung nahelegen.

Wir müssen uns also auch nicht unterwürfig darum bemühen, von unseren Genossinnen und Genossen doch bitte ernst genommen zu werden. Vielmehr ist die Verachtung vieler Linker für die Empathie mit den Tieren zutiefst bürgerlich, idealistisch und darum antimaterialistisch und antiaufklärerisch. Es geht also gar nicht nur darum, die Tierbefreiungsbewegung für die Auseinandersetzung mit der marxistischen Linken zu öffnen. Es geht genauso darum, die marxistische Linke von der Notwendigkeit des Dialogs mit der Tierbefreiungsbewegung zu überzeugen.

Drittens meinen wir, dass wir auf Grundlage eines solchen Dialoges eine gemeinsame Praxis entwickeln müssen. Wie diese aussieht, wird natürlich nicht in Einleitungsreferaten entschieden, sondern in der konkreten Politik der einzelnen Gruppen und Akteure. Mit unserer Herbstakademie möchten wir dafür einige Anstöße geben. Die einzelnen Workshops sollen dafür an ein paar aus unserer Sicht zentralen Punkten für mögliche Diskussionen ansetzen, und erste Fragen und Kritiken formulieren.

Dabei müssen wir uns natürlich beschränken, und es gäbe noch Anlass für viele weitere Workshops. Dazu noch eines: Assoziation Dämmerung ist nicht der „Think Tank“ der Tierbefreiungsbewegung, und wir werden heute auch keine knackigen Theoriepakete vorlegen, die man für den heimischen Gebrauch einfach nur mitnehmen muss. Wir möchten heute ein paar Überlegungen anstellen, wie sich die Befreiung der Tiere und linke, revolutionäre Realpolitik nicht nur gemeinsam denken lassen, sondern auch wie sie gemeinsam erkämpft werden können. Ob das gelingt, darüber entscheiden letztlich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die mit uns diskutieren und die zusammen entwickelten Ansätze zu ihrer eigenen politischen Praxis in Beziehung setzen.

In diesem Sinne: Viel Spaß bei unserem gemeinsamen Workshop-Tag!