Melodie & Rhythmus ist ein Magazin für kulturelle und künstlerische Fundamentalopposition gegen die alle Lebensverhältnisse von Mensch, Tier und Natur beherrschende falsche Produktionsweise. Doch die Einnahmen reichen nicht, um die hohen qualitativen Inhalte und die hervorragende Arbeit der Redaktion auf Dauer zu finanzieren. Die Produktion von M&R musste vorerst eingestellt werden.
Um das einzige professionelle Magazin für Gegenkultur vor dem Untergang zu bewahren, sind wir als Linke gefordert. Aufgeben – das geht gar nicht in Zeiten des aufhaltsamen Aufstiegs rechter und neokonservativer Demagogen, ihrer Organisationen, Medien und Parteien. Fortschrittliche Kultur darf nicht weiter an den Rand gedrängt und zerstört werden. Wir rufen daher alle dazu auf, noch heute ein Perspektivabo für die Melodie & Rhythmus zu erwerben!
M&R muss mit vereinten Kräften unterstützt und gerettet werden!
In der Tageszeitung junge Welt ist am 12. Dezember 2017 ein Interview mit dem Bündnis Marxismus und Tierbefreiung erschienen, welches wir an dieser Stelle dokumentieren.
Bündnis verknüpft Marxismus und die Überwindung des Kapitalismus mit der Befreiung der Kreatur. Gespräch mit Daniel Werding
Interview: Christof Mackinger
Vor drei Jahren sind Sie mit dem Bündnis »Marxismus und Tierbefreiung« angetreten, um »eine theoretische und praktische Vereinigung« der marxistischen Linken und der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung voranzutreiben. In einem Thesenpapier haben Sie dies unlängst ausgeführt, und bei Ihrer kommenden »Osterakademie« in Hamburg wollen Sie die Diskussion vertiefen. Nun ist Marxismus vielen ein Begriff. Was ist unter Tierbefreiung zu verstehen?
Mit dem Begriff wird der Flügel jener sozialen Bewegung bezeichnet, die sich für ein anderes Verhältnis zu Tieren in der Gesellschaft einsetzt. Die Tierbefreiungsbewegung lehnt »Tierwohl« und den klassischen »Tierschutz« ab. Tierwohl ist eine Propagandavokabel der Industrie und der ihr wohlgesonnenen Staatsapparate. Sie meint, dass die Konzerne minimale Änderungen im Umgang mit Kühen, Schweinen usw. vornehmen, sich aber faktisch nichts Wesentliches ändert. Mit dem Tierschutz ist es ähnlich. Wir wollen aber nicht größere Käfige, kürzere Tiertransporte und das Ende der offenkundigsten Misshandlungen, sondern das Schlachten beenden und die Tiere befreien: »Artgerechte Haltung« oder »Nutzung« gibt es nicht. Tiere sollen keine Produktionsmittel sein und nicht wie Gratisproduktivkräfte behandelt, für Profit getötet und als Waren verhökert werden.
Täglich sterben Menschen im Mittelmeer, der Sozialstaat wird ab- und der Überwachungsstaat ausgebaut. Warum setzen Sie sich dann ausgerechnet für Tiere ein?
Wir lehnen es ab, die verschiedenen Probleme des Klassenkampfs gegeneinander auszuspielen. Die herrschende Klasse macht aus allem Geld, was es auf diesem Planeten gibt. Wir können ihr nicht einfach ein zentrales Feld wie die Tierindustrie überlassen. Die Spaltung nutzt dem Gegner, nicht uns. Im übrigen engagieren sich die Mitglieder unseres Bündnisses ebenso etwa gegen die imperialistischen Kriege der NATO und der EU.
Aber warum soll sich die Linke für Tierbefreiung interessieren, was hat das mit Marxismus zu tun?
Der historische Materialismus und Marx’ Analyse der kapitalistischen Produktionsweise sind ein Werkzeug, mit dem man die Ausbeutung von Arbeitern, Tieren und der Natur im Kapitalismus theoretisch begreifen und ihre Befreiung begründen kann. Ein Blick ins Marxsche »Kapital« zeigt zudem, dass die Kapitalisten neben den lohnabhängigen Klassen auch die Natur und die Tiere ausbeuten – wobei sich die Formen unterscheiden. Auf Basis der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie können wir zudem eine Strategie für eine kollektive antikapitalistische Praxis entwickeln, in der Tiere zwar nicht Subjekte, aber Objekte der Befreiung sind.
Wenn man sich die Fleischindustrie anschaut, gibt es zahlreiche Gründe, warum die antikapitalistische Linke und die Tierbefreiungsbewegung gemeinsam für ihre Abschaffung kämpfen sollten. Marx hat einmal, Thomas Müntzer zitierend, gesagt, auch die Kreatur müsse frei werden.
Wie stellen Sie sich eine gesellschaftliche Befreiung der Tiere vor?
Die Befreiung der Tiere ist angesichts des heutigen Stands der Produktivkräfte problemlos realisierbar. Sie benötigt aber einen Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen. Nur wenn uns die Schlachthäuser gehören, können wir sie dichtmachen oder einer Konversion hin zur gesellschaftlich sinnvollen Produktion unterziehen. Da gibt es keinen Unterschied zur Kohle-, Waffen- oder Kulturindustrie.
Das Bündnis Marxismus und Tierbefreiung organisiert vom 30. März bis 1. April 2018 in Hamburg ein Veranstaltungswochenende unter dem Titel „Die Zukunft der Bewegung – Tierbefreiung zwischen Opposition und Affirmation“. Das Programm und weitere Infos finden sich auf www.osterakademie.tk. Hier im Folgenden das Mobi-Video und der Aufruf zur Osterakademie:
Die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung ist gegenwärtig mit mindestens drei Herausforderungen konfrontiert:
Trotz umfangreichen, vielfältigen Aktivismus und vereinzelter Erfolge gerät sie im Kampf mit den politischen und ökonomischen Profiteuren der Tierausbeutung zusehends ins Hintertreffen. Die Fleisch- und andere Tierindustrien blühen, ihre willigen Vollstrecker in den Staatsapparaten sorgen für politische und ideologische Rückendeckung und die entsprechende Kultur feiert – wie etwa die Pelzmode – fröhliche Urständ. Dennoch führt die »Bewegung« keine strategischen und organisatorischen Diskussionen, sondern hält am Eingeübten und einst Bewährten fest. Unsere Proteste vereinzeln, die politische Wirkung versiegt, noch bevor sie sich entfalten könnte. Zu jedem Zirkus eine Demo, vor jedem Laden eine Kundgebung, zu jedem Thema eine Kampagne – seien sie auch noch so aussichtslos und die Beteiligungen gering.
Gleichzeitig greifen etablierte Institutionen, wie z.B. Staatsapparate, Parteien, Stiftungen, Zeitungen, Universitäten usw., die verschiedenen Forderungen einzelner Bewegungsakteure auf. Dies erscheint zunächst positiv. Mit dieser Entwicklung ist allerdings auch die Gefahr der politischen Neutralisation verbunden. Ob Fortschritt oder nicht – die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung reagiert darauf bislang überwiegend unkritisch affirmativ. Hauptsache »aktiv für die Tiere« lautet scheinbar die Devise. Dabei haben etwa die Heinrich-Böll-Stiftung oder die Linkspartei keineswegs per se die Absicht, etwas für die Tiere oder die Tierbefreiungsbewegung zu tun. Sie verfolgen ihre eigenen Interessen, für deren Durchsetzung politische Bewegungen und AktivistInnen bisweilen eher nützliche IdiotInnen statt BündnispartnerInnen sein sollen. Ganz zu schweigen von den social-media-affinen Ich-AGs und NGOs, für die Tiere und das Mitleid mit ihnen in erster Linie eine lukrative Geschäftsidee sind. Auch die vegane Sub- und Gegenkultur wird durch Unternehmer wie Attila Hildmann, mit jedem entpolitisierten Konsumfest und jeder Konzern-Kooperation Schritt für Schritt dem bürgerlichen Lifestyle preisgegeben.
Schließlich erodiert allmählich das ohnehin sehr brüchige inhaltliche und politisch-strategische Fundament der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung. Auf Großereignissen der Bewegung wie bei Bündnistreffen klammert man Widersprüche eher aus, als sie auszutragen. Politische Bildung geht nicht über den rudimentären alltagstauglichen Polit-Wortschatz hinaus. Organisationsdebatten münden in die Vermessung bewegungs- und gruppeninterner Wohlfühlzonen. So nimmt es nicht Wunder, dass schwer erkämpfte politische Positionen nach innen und außen unterminiert werden, mühselig erarbeitete linke gesellschaftskritische Theoriebestände versickern und von wissenschaftlich und gesellschaftlich genehmen, liberalen Human-Animal-Phrasen überlagert werden. In logischer Konsequenz wird u.a. die ALF aus der Bewegung heraus als »gewalttätig« dämonisiert, Tierschutz als Ziel des Kampfes für die Tiere akzeptabler, historischer Materialismus und Marxismus werden plump denunziert und das bürgerliche Recht sogar als Verhandlungsgrundlage zur »Befreiung« der Tiere akzeptiert.
Auf diese Herausforderungen müssen wir politisch und organisatorisch reagieren, wenn wir wollen, dass die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung nicht den Weg der Affirmation beschreitet, sondern den der Opposition durch revolutionäre Realpolitik. Nur letzterer bietet die Möglichkeit, wieder Erfolge zu erringen und gleichzeitig die Perspektive für die Befreiung von Mensch und Tier zu verbessern.
Mit der Osterakademie 2018 möchten wir, das Bündnis Marxismus und Tierbefreiung, dazu beitragen, die skizzierten Probleme anzugehen und Argumente für die richtige Richtungsentscheidung zu sammeln. Mit Workshops, einführenden Vorträgen und Podiumsdiskussionen mit Gästen aus der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung wollen wir Lösungsvorschläge debattieren und organisatorische Perspektiven entwickeln.
Osterakademie des Bündnis Marxismus und Tierbefreiung // 30. März – 1. April 2018 // Hamburg
Hier geht’s direkt zum Programm
Hamburg, 22. September 2017, 19 Uhr, Magda-Thürey-Zentrum, Lindenallee 72 (Nähe U-Bahn Christuskirche). Eintritt: Spende.
Eine Veranstaltung der Melodie & Rhythmus – Magazin für Gegenkultur
Vor 150 Jahren erschien »Das Kapital« von Karl Marx. Er selbst fand, das Werk sei »das furchtbarste Missile, das den Bürgern noch an den Kopf geschleudert worden ist«. Doch im Jubiläumsjahr steht der Theoretiker Marx deutlich höher im Kurs als der Revolutionär: Der bürgerliche Mainstream feiert ihn als irgendwie »aktuell« zu Tode und warnt vor seiner »kommunistischen Vereinnahmung«. Linke und »Marx-Experten« drücken sich geradezu zwanghaft um die Aussage herum, dass Marx Kommunist war und das »Kapital« geschrieben hat, um der Arbeiterklasse eine Waffe für den Kampf gegen Ausbeutung und Klassenherrschaft an die Hand zu geben. So wird die Beschäftigung mit Marx zu einem großen Schwindel.
Michael Sommer arbeitet zur Marxschen Kritik der politischen Ökonomie.
John Lütten ist Autor für die Tageszeitung junge Welt und die Melodie & Rhythmus.
Moderation: Susann Witt-Stahl (Chefredakteurin Melodie & Rhythmus)
Der Veranstaltungsflyer steht hier zum Download bereit:
Das Portal für Kritischen Journalismus »Die Freiheitsliebe« hat ein Interview mit dem Bündnis »Marxismus und Tierbefreiung« geführt. Anlass für das Interview, das wir im Folgenden dokumentieren, bot die Veröffentlichung des Thesenpapiers »Marxismus und Tierbefreiung«. In dem Interview geht es u.a. um die Fragen, warum Marxisten und Tierbefreier sowohl theoretisch als auch politisch und organisatorisch einen »Bund fürs Leben« eingehen sollten und welche Rolle Tiere und ihre Ausbeutung in der kapitalistischen Wirtschaftsweise spielen.
[Hier geht's zum Interview auf der Hompepage der »Freiheitsliebe«]
Die Freiheitsliebe: Vor einigen Monaten habt ihr ein Papier mit 18 Thesen verfasst, die sich mit dem Zusammenhang von Marxismus und Tierbefreiung beschäftigen. Warum seht Ihr die Notwendigkeit, euch mit beiden Themen zu befassen?
Bündnis Marxismus und Tierbefreiung: Um diese Frage zu beantworten, müssen wir ein wenig ausholen. Für gewöhnlich ist es doch so: Der Impuls, sich dem Marxismus zuzuwenden, wird meist durch die Erfahrung ausgelöst, dass es in unserer Gesellschaft – salopp gesagt – nicht gerecht zugeht. Auf der einen Seite leben die Schaefflers, Bezos’, Buffets usw. in ihren Palästen in Saus und Braus. Auf der anderen Seite stehen die Ausbeutung von LohnarbeiterInnen und die Überausbeutung von Teilen der marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Armut nimmt zudem im real existierenden Kapitalismus vielerorts absurde Ausmaße an: Laut UN werden in diesem Jahr voraussichtlich 20 Millionen Menschen (sic!) in Gebieten wie Südsudan, Somalia, Jemen und Nigeria verhungern, während dutzende Millionen immer noch ihr Dasein als Sklaven oder in sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen fristen. Der ehemalige UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, hat zu Recht gesagt: »Wer jetzt am Hunger stirbt, wird ermordet.« Um diese buchstäblich irrationale Organisation der Gesellschaft zu verstehen, von der sehr Wenige sehr viel profitieren, bietet der Marxismus immer noch die beste Erklärung: Man kann den Wahnsinn mit Hilfe der marxschen Theorie begreifen und zugleich weiß man, was zu tun ist, um ihn zu beenden.
Mit dem Thema Tierbefreiung verhält es sich im Grunde sehr ähnlich. Die realen Beziehungen, in die Tiere in der kapitalistischen Klassengesellschaft gezwängt werden, können niemanden kalt lassen, dessen Herz nicht schon verhärtet ist. Jedes Jahr vermeldet das Bundesamt für Statistik neue Höchstwerte für die Fleischproduktion. 2016 wurden allein in der BRD knapp 60 Millionen Schweine und 3,6 Millionen Rinder geschlachtet. Lebewesen, die nachweislich intelligent sind, bewusst Erfahrungen machen, die hochgradig sozial handeln, die Schmerzen empfinden, die unter Ausbeutung und Herrschaft leiden können usw., werden zu hunderten Millionen jedes Jahr ohne Not und für den Profit einiger weniger getötet. Und damit haben wir noch gar nicht das Elend der Milchkühe, Legehennen, der Versuchs-, Zoo- und Zirkustiere angesprochen.
Nun ist es so, dass es zwar viele Vorschläge gibt, die Ausbeutung der Tiere auf den Begriff zu bringen. Sie wird von diversen AutorInnen aus einer um die Interessen der Tiere verkürzten Moral, aus dem speziesistischen Rechtsstatus der Tiere oder, was der Sache am nächsten kommt, aus der Herrschaft des Menschen über die Tiere abgeleitet. Diese verschiedenen Ansätze weisen aber allesamt einige Defizite auf. Zum Beispiel erklären die meisten Tierrechtler- und TierbefreierInnen die Ausbeutung der Tiere aus dem ideologisch-kulturellen Überbau der kapitalistischen Gesellschaft, obwohl Marx und Engels solche idealistischen Erklärungen widerlegt haben. Tiere und ihre Körper sind für das Kapital nur Waren und Produktionsmittel, und genau so werden sie auch behandelt. Was die einzelnen Wurstfabrikanten und Fleisch-Kapitalisten oder ihre Beschäftigten moralisch über Tiere denken, ist darum nicht das Entscheidende. Auch beuten nicht »die Menschen« »die Tiere« aus. Eine Fraktion der Kapitalistenklasse lässt die Tiere zu ihrem individuellen ökonomischen Vorteil ausbeuten.
Der historische Materialismus und die Kritik der politischen Ökonomie, wie Marx und Engels sie erarbeitet haben, ermöglichen uns eine präzisere Analyse der Tierausbeutung in unserer heutigen Gesellschaft und zeigen zudem, dass die Tierindustrie vor dem Hintergrund der Produktivkraftentwicklung vollkommen irrational- und massiv an der Zerstörung der Lebensgrundlagen auf der Erde beteiligt ist. Die Notwendigkeit, sich mit Marxismus und Tierbefreiung auseinanderzusetzen, rührt also erstens daher, dass die Aufrechterhaltung des Status quo schlicht keine Option ist. Zweitens bietet der Marxismus das beste Handwerkszeug, um die Ursachen der Ausbeutung von der Mehrheit der Menschen und von Tieren in der kapitalistischen Gesellschaft zu verstehen. Drittens hilft marxistische Gesellschaftstheorie dabei, eine geeignete Strategie zu entwickeln, die sich nicht nur auf eine bereinigte Sprache und einen tierfreundlichen Lebensstil beschränkt, und mit der sowohl die Menschen als auch die Tiere befreit werden können. Unser Thesenpapier ist ein Angebot an alle, die bereit sind, über dieses Ziel ernsthaft nachzudenken und zu diskutieren.
Die Freiheitsliebe: Ihr fordert, Marxisten und Tierbefreier sollten einen »Bund fürs Leben« schließen. Wie kann ein solches Bündnis aussehen?
Bündnis Marxismus und Tierbefreiung: Ja – wir schreiben, dass sie keine »Zwangsehe«, sondern eben einen »Bund fürs Leben« schließen sollten. Es geht also nicht darum, dass sie bloß punktuell kooperieren und ansonsten nichts miteinander zu tun haben, sondern es soll ein gemeinsames Projekt mit einer gemeinsamen inhaltlichen und politischen Agenda sein. So ein Bündnis sollte, grob umrissen, mindestens zwei Ebenen umfassen – eine theoretische und eine politisch-organisatorische.
Auf der Ebene der Theorie meinen wir, wie bereits angedeutet, dass Marxismus und Tierbefreiung ganz klar zusammengehören. Der historische Materialismus liefert eine konkrete und brauchbare Erklärung dafür, wie und warum sich Mensch und Tier im Laufe der Zivilisationsgeschichte unterschiedlich entwickelt haben – nämlich, weil der Mensch sich mittels gesellschaftlicher Arbeit aus der Natur herausarbeitet und den Unterschied zum Tier somit selber produziert. Daraus folgt eben wie gesagt auch, dass wir heute die kapitalistische Organisation gesellschaftlicher Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft betrachten müssen. Und hier meinen wir, dass die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie das geeignetste Mittel ist, um die kapitalistische Produktion von Fleisch, Milch, Eiern etc. zu analysieren. Die genannten in der derzeitigen Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung populären Erklärungsmuster für Geschichte und heutige Beschaffenheit des Mensch-Tier-Verhältnisses können so eine Erklärung nicht leisten. Deswegen formulieren wir im Thesenpapier jeweils eigene Kritiken dieser Ansätze und argumentieren für den genannten »Bund fürs Leben«. Für die Marxisten wiederum bedeutet all das dreierlei: Erstens, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Tierausbeutung historisch nicht nur nicht mehr notwendig ist, sondern auch umfassende Destruktivkräfte entwickelt. Zweitens, dass Mensch und Tier eine gemeinsame Geschichte haben, die Fähigkeit teilen, zu leiden – und es für Marxisten als historische Materialisten also keinen vernünftigen Grund gibt, das Leid der Tiere nicht ebenso abschaffen zu wollen wie das des Proletariats. Drittens müssen sie zur Kenntnis nehmen, dass die Tiere ebenso wie die Natur und die Arbeitskraft vom Kapital vernutzt bzw. ausgebeutet werden, um Mehrwert zu produzieren, auch wenn sich die Ausbeutung qualitativ unterscheidet und die Natur im Allgemeinen und die Tiere im Besonderen »lediglich« das Material zur Mehrwertproduktion sind. Daher haben die Natur und die Tiere objektiv den selben Gegner wie die Arbeiterklasse: die Bourgeoisie.
An diese theoretische Ebene würde die politische und organisatorische anschließen: Marxisten und Tierbefreier sollten die inhaltlichen Einsichten als Grundlage für ein gemeinsames politisches Projekt nehmen und eine Diskussion über gemeinsame Strategie und Taktik sowie ein gemeinsames Agieren führen. Denkbar wären etwa Kampagnen gegen die Fleischindustrie, verbunden mit der Forderung, sie in ökologisch nachhaltig und vegan produzierende, kollektiv von den ArbeiterInnen verwaltete Betriebe zu überführen. Und mit diesem gemeinsamen Projekt ginge dann die organisatorische Ebene einher: Es muss eine Organisationsform gefunden werden, in dem sich das gemeinsame Projekt abbildet und manifestiert.
Es geht also letztlich darum, ein gemeinsames öko-marxistisches und kommunistisches Projekt auf die Beine zu stellen. Dass wir von einem solchen Bündnis natürlich noch meilenweit entfernt sind, braucht man uns nicht sagen. Wir sehen es jedoch als notwendig an, und sehen auf kurz oder lang keine Alternative dazu.
Die Freiheitsliebe: Ihr beschreibt die enormen materiellen Interessen, die die Nahrungsmittelindustrie hat. Die wenigsten Marxisten würden sich gegen deren Enteignung stellen, aber was geschieht danach?
Bündnis Marxismus und Tierbefreiung: Die Strategie lässt sich gar nicht rigide in ein zeitliches »Vorher« und »Nachher« einteilen, zumindest nicht, wenn wir Rosa Luxemburgs Idee einer »revolutionären Realpolitik« ernst nehmen. Wir müssen bereits heute diskutieren, was wir wirklich brauchen und was wir wie produzieren wollen. Niemand in der Linken würde beispielsweise ernsthaft fordern, dass in enteigneten Betrieben Frauen und Migranten nur die Drecksarbeit machen sollen, dass wir einfach weiter dicke Autos und anderen Müll herstellen, dass wir Energie aus Kohle- und Atomkraftwerken beziehen, Monokulturen anlegen und acht Stunden am Tag schuften gehen. Die Verstaatlichung, Enteignung oder Vergesellschaftung an sich macht noch keine Produktionsweise, in der alle nach ihren Bedürfnissen und jeder nach seinen Fähigkeiten lebt und arbeitet.
Für uns ist klar: Eine Gesellschaft, in der Tiere getötet werden, damit wir ihre Körperteile essen können, ist keine befreite. Ganz zu schweigen davon, dass die Fleischproduktion, wie bereits gesagt, vom Stand der Produktivkräfte aus betrachtet schlicht unnötig ist. Es können schon heute genug vegane Nahrungsmittel für alle hergestellt werden. Die Nahrungsmittelindustrie müsste also nicht »nur« von den Produzenten kontrolliert, sie müsste auch einer Konversion unterzogen werden und zwar vom Anbau bis zu Verteilung. Die Idee der Friedensbewegung, die Rüstungsbetriebe einer Konversion zu unterziehen, lässt sich wunderbar auf die Fleischindustrie übertragen. Dies ist wiederum bei der Fortexistenz des Privatbesitzes an Produktionsmitteln nicht realisierbar. Wir können nichts umbauen, was uns nicht gehört. Da die Nahrungsmittelindustrie zu den sogenannten Schlüsselindustrien zählt – alle Menschen müssen nun einmal essen und trinken – ist es naheliegend, dass man mit ihrer Vergesellschaftung beginnt. Dann könnten wir auch das Essen von Medikamenten, Gentechnik usw. befreien, die wir jetzt täglich aufnehmen.
Die Freiheitsliebe: In Eurer neunten These heißt es, dass das Mensch-Tier-Verhältnis »das Ergebnis eines Zivilisationsprozesses, in welchem sich der Mensch durch die gesellschaftliche Arbeit aus der Natur herausarbeitet und damit den Unterschied zu nichtmenschlichen Tieren selber produziert« habe. Aber historisch gesehen haben Menschen schon immer Tiere gegessen. Wollt Ihr dies verhindern oder wollt ihr vor allem das Verhältnis verändern?
Bündnis Marxismus und Tierbefreiung: Naja – für oder gegen was ist die Feststellung, dass Menschen etwas »schon immer« getan haben, denn ein Argument? Menschen haben ja auch schon vor dem Kapitalismus Kriege geführt und es gibt auch bis heute immer noch ein Patriarchat, und trotzdem wollen wir als Marxisten das ändern, oder nicht? Wir wollen beides: Das Verhältnis von Menschen und Tieren verändern, und – als Bestandteil dessen –den Konsum von Fleisch und anderen Tierprodukten beenden – auch um der Tiere Willen. Allerdings wollen wir das nicht nur aus moralischen Gründen, sondern wir halten die gegenwärtige real existierende Fleischproduktion insgesamt für objektiv irrational: Sie ruiniert ja nicht nur die Proletarier, die in ihr arbeiten (z.B. durch prekäre Billigjobs, Überausbeutung und rigoroses Vorgehen gegen gewerkschaftliche Organisierung), sondern auch die Natur, etwa durch Abfälle und CO2-Ausstoß. Sie ist also ein Hindernis für die weitere Entwicklung der Menschen. Darum sehen wir unsere marxistischen Genossinnen und Genossen in der Pflicht, eine politische Position zur Fleisch- bzw. Tierindustrie einzunehmen. Und wir meinen eben: Sie ist ein Hindernis für eine tatsächliche (sozialistische) Zivilisationsgeschichte und muss in ihrer jetzigen Form abgeschafft werden.
Die Freiheitsliebe: In eurem Text beschreibt Ihr, dass sowohl Tiere als auch Arbeiter ausgebeutet werden, welche Parallelen und welche Unterschiede seht ihr?
Bündnis Marxismus und Tierbefreiung: In unseren Thesen elf und fünfzehn versuchen wir die Differenzen in der Ausbeutung des Proletariats und der Tiere zumindest grob zu benennen. Während die Arbeiter politisch formal »frei« sind – als doppelt freie Lohnarbeiter – sind die Tiere nicht politisch als Individuen anerkannt. Die Lohnabhängigen verkaufen ihre Arbeitskraft an Kapitalisten und bekommen dafür einen Teil des von ihnen produzierten gesellschaftlichen Produkts in Form von Lohn, mit dem sie ihr Überleben oft mehr schlecht als recht sichern können. Die Tiere sind qua kapitalistischer Eigentumsverhältnisse als Produktionsmittel wie die Natur insgesamt Privateigentum der Kapitalisten. Diese können nach Belieben über sie verfügen.
Diese nicht unbeträchtliche Differenz in der Stellung im Produktionsprozess führt dazu, dass sich die Kapitalisten das Mehrprodukt der Arbeiter aneignen können, während die Tiere vollumfänglich in den Produktionsprozess eingehen. In Upton Sinclairs Roman »Der Dschungel« über die größten Schlachthäuser Anfang des 20. Jahrhunderts in Chicago wird der Protagonist des Romans, ein litauischer Einwanderer, gleich zu Beginn seiner Arbeit in den gefürchteten Stockyards darüber in Kenntnis gesetzt, dass vom Schwein »absolut nichts unverwertet« bleibe – »bloß für das Quieken hat man noch keine Verwendung gefunden«.
Ihre unterschiedlichen Positionen im Produktions- und Ausbeutungsprozess führen auch dazu, dass die Tiere zwar Produkte ko-produzieren, ja sogar zum Teil der Waren werden. Dennoch leisten sie keine produktive Arbeit im Sinne der Wertproduktion. Sie liefern »lediglich« Gebrauchswerte der Waren und zwar gratis. Sie produzieren jedoch keine Werte wie die Lohnarbeiter. Dies ändert aber nichts daran, dass beide, wenn auch qualitativ unterschiedlich, von Kapitalisten ausgebeutet werden.
Die Rollenverteilung zwischen Tieren und Proletariat ist das vorläufige Zwischenergebnis der Klassenkämpfe. Dass die Rollen auch in zukünftigen Klassenkämpfen unterschiedlich gelagert sind, liegt auf der Hand. Tiere sind weder eine Klasse noch sind sie Subjekte des Klassenkampfs. Aber wir bestehen darauf, dass die Tiere ebenso wie die Natur Objekte des Klassenkampfs und der sozialistischen Revolution sind. Ohne ihre Befreiung ist Sozialismus bzw. Kommunismus nicht zu haben
Die Freiheitsliebe: Danke euch für das Gespräch.
Mit Rot-Rot-Grün kommt kein progressives Reformbündnis,
sondern es droht ein gefährlicher Pyrrhussieg
Kommt Rot-Rot-Grün, oder kommt Rot-Rot-Grün nicht? Galt das Projekt Anfang des Jahres noch als politisch so gut wie tot, wachsen seit Frühlingsbeginn dank »Schulz-Effekt« mit den ersten Blättern auch die Umfragewerte der Sozialdemokratie und sorgen für frischen Wind in den Segeln der »R2G«-Begeisterten. Aber viel schlauer ist man auch nach der Saarland-Wahl nicht. Hin- und hergeworfen zwischen Schreckensbildern – »Rot-Rot-Grün gefährdet die Sicherheit der Bevölkerung!« (Volker Kauder) – und Euphorie angesichts des kommenden »Bündnisses aller progressiven Kräfte« (Sigmar Gabriel) schlingert die veröffentlichte Meinung weiter in Richtung Bundestagswahl.
Noch lässt sich also nicht sagen, ob die Zeichen der Annäherung – die Grünen tun so, als würden sie für eine »Vermögenssteuer« eintreten, Die-Linke-Fraktionschef Bartsch will »endlich Deutschland nach vorne bringen«, und Martin Schulz »entschrödert« (Spiegel Online) angeblich die Sozialdemokratie – vergeblich gesendet werden. Aber so einfach werden die Realos in der Linken und ihre karrierebewussten Kolleginnen und Kollegen auf den linken Flügeln von SPD und Grünen ihre Hoffnungen nicht aufgeben. Die Option »R2G« ist schon deshalb keineswegs vom Tisch. Hinzu kommt: Bekäme die Linke größeren Zuspruch, wäre ihre Neutralisierung als ernstzunehmende antikapitalistische Opposition für die Profiteure des gegenwärtigen Krisenkapitalismus überlebenswichtig. Die Integration in eine Regierungskoalition wäre dafür ein probates Mittel.
Die große Integration
Außerhalb der Parlamentarierbüros bemüht sich eine Vielzahl von Denkfabriken, Initiativen und Bündnissen schon länger darum, Spielräume für das rot-rot-grüne »Crossover« auszuloten und es als »linke Regierung in Deutschland, die einen Unterschied macht« zu verkaufen. Das eigens zur Vernetzung der potentiellen Koalitionäre gegründete Institut Solidarische Moderne (ISM) entfaltet zu diesem Zweck seine Vision vom »mosaiklinken« Bündnis als »Projekt der gesellschaftlichen Linken und der solidarischen Milieus«. Die Rosa Luxemburg Stiftung (RLS), eine der wichtigsten Geldquellen linker Politik hierzulande, und die Tageszeitung Neues Deutschland, mittlerweile vollends zum Verlautbarungsorgan des rechten Parteiflügels umgemodelt, tun das Ihre: Nicht wenige Köpfe etwa der Interventionistischen Linken (IL) – eine der einflussreichsten APO-Organisation der deutschsprachigen Linken – stehen auf ihren Gehaltslisten, sind politisch wie ökonomisch von ihren Netzwerken abhängig und dienen objektiv der Integration des linksradikalen Milieus ins Regierungsprojekt der Linkspartei. Nicht anders steht es um den »antinationalen« Zwilling der IL, das UmsGanze-Bündnis um Gruppen wie TOP B3rlin.
Thüringen, Berlin und Brandenburg – ein Vorgeschmack
»Wer wissen will, wie Rot-Rot-Grün im Bund funktionieren würde, muss nur nach Berlin schauen«, so beschrieb der Rechtsaußen unter den Spiegel-Online-Kolumnisten, Jan Fleischhauer, jüngst, wo sich etwas über die vermeintlich »linke Zukunft« lernen lässt. Er liegt damit richtig und falsch zugleich. Selbstverständlich ist die erste rot-rot-grüne Koalition unter Führung der SPD in Berlin ein Modell für den Bund. Falsch ist jedoch Fleischhauers Bewertung des Hauptstadtbündnisses. Eine Gefahr für »die öffentliche Ordnung« zu sein, wie er meint – davon ist es weit entfernt. Die Regierungsprojekte unter Einschluss der Linkspartei erwiesen sich im Gegenteil als Garanten der öffentlichen Ordnung.
In Berlin stimmte die PDS/Die Linke in den Nuller-Jahren 35.000 Entlassungen im öffentlichen Dienst ebenso zu wie der Privatisierung städtischer Unternehmen, und in Thüringen bekennt sich Rot-Rot-Grün wie im roten Rathaus zur Schuldenbremse – dem Instrument neoliberaler Haushalts- und Finanzpolitik. Auf anderen Politikfeldern sieht es nicht besser aus. In Brandenburg beendete Rot-Rot die grün-sozialdemokratischen Träumereien von einem »sozial-ökologischen Umbau«, als 2014 die Fortsetzung und Ausweitung des regionalen Braunkohletagebaus beschlossen wurde. Abschiebungen setzt die Linke gemeinsam mit der SPD und den Grünen in wechselnden Konstellationen ebenso durch wie Bundeswehrbesuche an Schulen und in Jobcentern. In Berlin blieb der Stadtsoziologe und Kritiker neoliberaler Mietpolitik Andrej Holm keine sechs Wochen Staatssekretär für Wohnen, bevor »R2G« ihn auf Druck der Berliner Immobilienhaie und deren politischen Alliierten entsorgte. Die Causa Holm ist zudem ein Beleg für die konformistische Vergangenheitspolitik der Linkspartei. In Erfurt verteufelt sie die DDR als »Unrechtsstaat«, während Landespapst Bodo Ramelow (Die Linke) sogar die Bespitzelung seiner eigenen Parteigenossen durch den Verfassungsschutz toleriert.
»… diese Koalitionsmöglichkeit nicht unmöglich machen«
Die landespolitischen Vorreiter und die programmatischen Debatten in den Parteien lassen es erahnen: Kämen Rot, Rot und Grün gemeinsam in »Regierungsverantwortung«, würden die Schwergewichte auf der Agenda einer wirklich besseren Zukunft – soziale Frage, Ökologie und Antimilitarismus – unter dem Deckmantel reformerischer Kosmetik dem parteipolitischen Karrierismus und Pragmatismus geopfert.
Die Linke hat inzwischen gute Seiten am Hartz-IV-Regime entdeckt, die Grünen reden von einer Vermögenssteuer »für Superreiche« (die jedoch kaum Steuern auf kaum ein Vermögen bedeuten würden und für die SPD ohnehin schon wieder vom Tisch ist), statt gesetzlicher Erhöhung des Mindestlohns geht es um die Abschaffung von Ausnahmen, und die private Altersvorsorge soll vorerst nur neben die gesetzliche treten. Das alles riecht deutlich mehr nach Make-up für fortgesetzten Sozialabbau als nach »progressivem Reformbündnis«. Und das gilt nicht nur für die Sozialpolitik. »Energierevolution statt grüner Kapitalismus«, tönte Die Linke im Thüringer Wahlkampf. Sie wolle die Energieproduktion verstaatlichen, um diese der »Kapitalmarktlogik« zu entziehen. Wie Die Linke diese am Gemeinwohl orientierte Energieproduktion durchsetzt, ohne dabei in den offenen Konflikt mit der kapitalistischen Wachstumslogik und den Energiekonzernen zu treten, zeigt der Erfurter Koalitionsvertrag – darin findet sich kein Wort zur angekündigten ökosozialistischen Offensive. Ähnlich »aussichtsreich« liegen die Dinge bei der Frage nach Krieg oder Frieden: »Ohne Vorbehalte« müsse Die Linke »akzeptieren, dass jede Bundesregierung der internationalen Verantwortung Deutschlands etwa im Rahmen der NATO jederzeit gerecht werden muss«, gab SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann der Linken mit auf den Weg. Bodo Ramelow, Gewehr bei Fuß, rät seiner Partei dann auch, »an der NATO-Frage diese Koalitionsmöglichkeit nicht unmöglich zu machen«. Schließlich heiße das ja nicht, »dass wir begeisterte NATO-Anhänger werden müssen«.
»R2G« – sonst AfD!
Für diejenigen, denen angesichts solch ernüchternder Aussichten Zweifel am Wert des »linken Reformprojekts« aufkommen, haben die »R2G«-Ideologen aber noch einen treffsicheren Pfeil im Köcher: Sollte Rot-Rot-Grün scheitern, gewännen nur die AfD und der »Trumpismus«. Wer also jetzt nicht mitmacht, der muss sich für das Schlimmste verantworten – eine schwarz-gelbe Regierung mit starker AfD im Bundestag. »Die effektivste Regierung gegen den Rechtsruck: Eine linke Regierung!«, denn »ohne das Angebot einer linken Alternative werden viele der auch sozial verängstigten AfD-Wähler weiter den Rechtspopulisten auf den Leim gehen«. »Gemeinsam Aufstehen gegen Rassismus« – so lautet die Mär vom kleineren Übel.
Gesellschaft ohne Opposition
Das Problem dabei: Ein »linkes« rot-rot-grünes Lager gibt es in der bundesdeutschen Politiklandschaft gar nicht. SPD und Grüne stehen nicht in Opposition zum Status Quo der Kriegs- und Antisozialpolitik – sie haben diesen Konsens nach 1998 neu Erfunden. Bietet sich ihnen Die Linke als Regierungspartner an, ist sie auf bestem Wege, für das damals ins Werk gesetzte neoliberale Projekt zur Restaurierung der Klassenherrschaft als »linkes« Feigenblatt zu dienen. Dass dafür der linke Parteiflügel noch kaltgestellt werden müsste, liegt auf der Hand. Wie das geht, führen die Parteirealos eindrucksvoll vor, wenn sie Sahra Wagenknechts angeblich AfD-konforme Forderungen zur Flüchtlingspolitik scheinbar von links kritisieren, zur Abschiebepraxis der Parteirechten in Thüringen aber beredt schweigen. So betreiben sie die Geschäfte der Bourgeoisie, die schon immer auf Neutralisierung der Opposition durch Integration gesetzt hat, wenn ihr terroristische Methoden der Unterdrückung nicht opportun oder geboten scheinen.
Vielleicht würden unter »R2G« die deutschen imperialistischen Interessen vorerst subtiler verfolgt, könnten Hartz-IV-Bezieher mit etwas milderen Sanktionen rechnen, könnte die gesetzliche Rente etwas langsamer an die Finanzindustrie verhökert werden, hätte der »Green New Deal« ein paar mehr regierende Fürsprecher – solange nichts von alledem dem »Wirtschaftsstandort Deutschland« schadet. Auch das »Aufstehen gegen Rassismus« fände in Regierungskreisen allgemeinen Anklang, solange nur den gesellschaftlichen Ursachen der Rechtsentwicklung nicht auf den Grund gegangen wird. Mit dem beschworenen »linken Politikwechsel« hat all das wenig zu tun – umso mehr aber mit der Paralyse echter Opposition.
Die beschworene Verhinderung eines weiteren Aufstieges der AfD mittels Regierungsbeteiligung könnte sich vor dem Hintergrund kläglicher Sozialkosmetik und fortgesetzter NATO-Politik als kurzfristiger und folgenreicher Pyrrhussieg erweisen. Das freiwillige Einstimmen der Linkspartei in den elitär-neoliberalen und imperialistischen Parteienkanon – sei es nun aus Karrierismus oder aus hoffnungsloser Selbstüberschätzung –, der für »die da unten« einen Schlag ins Gesicht nach dem anderen bereithält, hinterließe auf der Oppositionsbank ein Vakuum. Darauf, diese Leerstelle auszufüllen und sich nicht nur als parlamentarische, sondern als einzige gesellschaftliche Opposition an der Seite der Abgehängten, Protestwähler und NATO-Kritiker zu inszenieren, wartet die AfD nur. Alexander Gauland und seine Parteigenossen könnten dann konkurrenzlos um diejenigen buhlen, »auf deren Rücken das System fortschreitet – das heißt gerade die Klassen, deren Existenz einmal die Opposition gegen das System als Ganzes verkörperte« (Marcuse) und die nun enttäuscht feststellen, dass links kaum noch jemand steht, der gegen die Missstände der neoliberal radikalisierten kapitalistischen Gesellschaft kämpft.
Zu einer derartigen Gesellschaft ohne Opposition leistet die außerparlamentarische Linke einen gewichtigen Beitrag, wenn sie Die Linke in ihrem Regierungsvorhaben unterstützt und sich mit ihr in die »heilige Phalanx der Ordnung« (Marx) begibt. Die Mittel, die Rosa Luxemburg der Sozialdemokratie ihrer Zeit schon vor hundert Jahren empfahl – »rückhaltlose Kritik der Regierungspolitik« und Organisation der gesellschaftlichen Opposition innerhalb wie außerhalb der Parlamente –, sind bis heute die richtigen Mittel gegen neoliberalen Klassenkampf und AfD.
5. April 2017,
Assoziation Dämmerung
Das Bündnis Marxismus und Tierbefreiung hat ein Thesenpapier verfasst, das begründet, warum marxistische Analyse und Politik sowie das Anliegen der Tierbefreiungsbewegung zusammengehören und warum sich beide Lager, die bislang nur wenige Berührungspunkte haben und einander z.T. mit einiger Skepsis begegnen, für ein revolutionäres Projekt zusammentun müssen. Der Text beruht auf zahlreichen Diskussionen mit Genossinnen und Genossen sowohl der Tierbefreiungsbewegung wie auch der sozialistisch-kommunistischen Linken. Er ist auch in gedruckter Form als Broschüre erhältlich und kann über das Bündnis bezogen werden. Für Kritik, Anfragen oder den Bezug der Broschüre kann das Bündnis gerne via Facebook als auch per Mail (mutb [at] riseup.net) kontaktiert werden.
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Der Marxismus und die Befreiung der Tiere – auf den ersten Blick zwei Dinge, die kaum etwas miteinander zu tun haben. Schließlich hat weder ersterer durch seine Tierliebe von sich reden gemacht, noch sind die Tierfreunde dafür bekannt, sich die Befreiung der Arbeiterklasse und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben zu haben.
Ganz im Gegenteil: Mit dem klassischen Marxismus können die mehrheitlich autonom-anarchistisch geprägten Tierbefreiungsaktivisten nicht viel anfangen; er gilt als theoretisch unterkomplex und autoritäre Ideologie, die sich mit dem Ende des Realsozialismus erledigt hat.
Zwar kommen Kapitalismuskritik und das Vokabular der Arbeiterbewegung („Genosse“, „Klasse“) in der linksradikalen Szene wieder vermehrt in Mode, aber so richtig kann man mit den traditionellen Marxisten trotzdem nichts anfangen. Sie sind als notorische Tierhasser verschrien, die nur von Ökonomie reden und oft kaum von kleinbürgerlichen Bratwurst-Spießern zu unterscheiden sind.
Bei den Marxisten wiederum stehen die Tierbefreiungsaktivisten nicht hoch im Kurs: Sie werden oft als spleenige Kostverächter und bürgerliche Moralisten gesehen, die an unwichtigen Nebensächlichkeiten herumdoktern, anstatt sich den zentralen Fragen zu widmen. Bei klassenkämpferischen Aktionen und Bündnissen sollen sie sich zwar beteiligen, aber mit ihrem „Tierfimmel“ kann und will man nichts anfangen. Das Ziel einer Gesellschaft, in der Mensch und Tier von Ausbeutung und Unterdrückung befreit sind, treibt vielen Genossen den Angstschweiß auf die Stirn, weil das den Verlust von Wurst und Käse bedeuten würde. Und außerdem hat sich ja schon Friedrich Engels über die „Herrn Vegetarianer“ lustig gemacht, die die Bedeutung des Fleischverzehrs für die menschliche Zivilisationsgeschichte verkannten und es bestenfalls zu utopischen Sozialisten bringen konnten.
Wir denken entgegen dieser Frontstellung, dass die von Karl Marx und Friedrich Engels begründete historisch-materialistische Gesellschaftsanalyse und -kritik, die darauf gründende Politik und die Forderung, die Tiere von gesellschaftlich produziertem Leid zu befreien, notwendig zusammengehören. Denn einerseits ist die Forderung nach einer Befreiung der Tiere tatsächlich moralistisch, wenn sie sich nicht die Frage stellt, unter welchen historisch spezifischen Bedingungen die Ausbeutung der Tiere eigentlich stattfindet und was entsprechend gesellschaftlich verändert werden muss, um sie zu beenden. Und andererseits ist jede marxistische Gesellschaftskritik unvollständig, die nicht zur Kenntnis nimmt, dass in der Geschichte der Klassenkämpfe die herrschenden Klassen nicht nur die ausgebeuteten Klassen, sondern stets auch die Tiere (und die Natur) zu ihrem Vorteil exploitiert und unterdrückt haben.
Zwar haben sich die Ausbeutung der Lohnabhängigen einerseits und der Tiere andererseits historisch qualitativ unterschiedlich entwickelt, und ihre Stellung zu den Produktionsmitteln unterscheidet sich auch heute. Bei allen Unterschieden haben die Arbeiterklasse und die Tiere aber eine gemeinsame Geschichte, in der sie der herrschenden Klasse als Leidende, Erniedrigte, Geknechtete und Verlassene gemeinsam antagonistisch gegenüberstehen. Die einen als Subjekte-, die anderen als Objekte der Befreiung. Wir meinen also: Der Tierbefreiungsgedanke bleibt inkonsequent, wenn er sich der historisch-materialistischen Kritik der Gesellschaft versperrt. Genauso bleibt jedoch der Marxismus inkonsequent, wenn er sich weigert anzuerkennen, dass die Befreiung der Tiere heute zu marxistischer Theorie und Politik dazugehören muss. Erstens macht der gegenwärtige Stand der Produktivkraftentwicklung sie nicht nur möglich, sondern auch notwendig. Wer eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, Herrschaft und objektiv sozial produziertes und vermeidbares Leiden schaffen will, ist zweitens gezwungen, auch das Leid der Tiere anzuerkennen und dessen Abschaffung anzustreben. In der Geschichte der Linken und der Arbeiterbewegung hat es vereinzelt schon Ansätze gegeben, Marxismus und Tierbefreiung zu vereinen. Sie haben sich aber bislang nicht durchgesetzt. Die folgenden Thesen sollen begründen, warum Marxisten und Tierbefreier keine Zwangsehe, sondern einen Bund fürs Leben schließen sollten.
Rund 400 AktivistInnen vor allem aus der Klima- und Tierbefreiungsbewegung haben am 12. November 2016 unter dem Motto „Tierproduktion stoppen! Klima retten!“ gegen die EuroTier-Messe in Hannover demonstriert. Aufgerufen hatte das Netzwerk „Animal Climate Action“, das die Aktiven der verschiedenen Bewegungen zusammenbringen und vernetzen will. Auch das Bündnis Marxismus und Tierbefreiung hat sich an der Demonstration beteiligt und einen Redebeitrag gehalten, den wir hier dokumentieren.
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen!
Die von der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft organisierte „EuroTier“ ist die weltweit größte Messe für Tierhaltung und Tierzucht. Die „Leitmesse für Tierhaltungsprofis“, wie sie sich nennt, gibt sich den Anschein, es ginge ihr um tierfreundliche Ambitionen, man wolle „den Blick für das Tier nicht vernachlässigen“. Tatsächlich ist die „EuroTier“ eine Plattform global agierender Unternehmen – den Schwergewichten des Fleisch-Kapitals, das mit „Tierfreundlichkeit“ schlicht unvereinbar ist. Seine Akkumulationsstrategien sind vielmehr unweigerlich mit der systematischen Quälerei und Tötung von Tieren verbunden.
Fleisch-MagnatInnen wie Tönnies und Vion sind mit ihren hauseigenen Zucht-, Vermarktungs- und Handelsorganisationen genauso vertreten wie der deutsche Geflügelfleisch-Monopolist, die PHW-Gruppe mit seiner Marke „Wiesenhof“. Unternehmen der Tierzucht, Futterhersteller, Hersteller von Hallen und Mastanlagen und Unternehmen der Melktechnik präsentieren ihre neusten „Innovationen“, um das Leid und den millionenfachen Tod der Tiere noch effizienter und profitabler zu gestalten. Es kommt nicht von ungefähr, dass rund die Hälfte der Aussteller aus der Bundesrepublik stammt: Deutschland ist „der Schlachthof Europas“.
Gleichzeitig mit der „EuroTier“ findet die ebenfalls von der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft konzipierte „EnergyDecentral“ statt. Offiziell ist das „eine internationale Fachmesse für innovative Energieversorgung“ – tatsächlich ist diese zweite Messe aber nicht mehr als ein grünes Feigenblatt, um die von der Tier-Industrie verursachten katastrophalen Folgen für Mensch, Tier und Natur zu verschleiern.
Grün-etikettierte Strategien dieser Art haben Hochkonjunktur: Fleisch-Konzerne führen vegane Produkte ein, um neue Märkte zu erschließen und gleichzeitig eine Abkehr von ihrer anti-ökologischen Unternehmenspraxis zu propagieren. Das ist eine Doppel-Strategie, die dem Kapital auch sonst nicht fremd ist: die Industrienationen überschwemmen mit subventionierten Fleisch-Exporten die Länder der Peripherie. Gleichzeitig möchte dasselbe Personal keinen systematischen Zusammenhang von Fleischproduktion, Klimawandel und globaler Armut erkennen. Stattdessen beschäftigen sie die Welt mit nutzlosen Gipfel-Treffen und Verhandlungen, die vorgeblich den Klimawandel eindämmen sollen.
Das im letzten Jahr geschlossene Pariser-Abkommen ist dafür beispielhaft: zwar einigten sich 195 Staaten erstmals in der Geschichte auf eine Obergrenze der globalen Erderwärmung – die wahren Ursachen der Klimazerstörung fassen die Unterzeichner des Abkommens aber nicht an. Kein Wort zu der grenzlosen Jagd westlicher Konzerne nach höheren Profiten, kein Wort zum systematischen Zusammenhang zwischen kapitalistischem Wachstum und Naturzerstörung ist dem Abkommen zu entnehmen. Die Feststellung, dass „der Abbau der Wiederkäuerbestände“ für den Klimaschutz entscheidend ist, wurde im Klimaschutzplan der Bundesregierung auf Betreiben des Landwirtschaftsministers gestrichen!
Die Folgen dieser verheerenden Praxis haben diejenigen zu tragen, denen es an einer schlagkräftigen Lobby fehlt: die ArbeiterInnen, Marginalisierten und Tiere. Ginge es nach den UnterzeichnerInnen, soll die kapitalistische Produktionsweise wie gewohnt weitergehen – der Klimawandel möge „uns“ aber bitte verschonen.
Doch wie ist den Fleisch-Kapitalisten, ihren grünen Stichwortgebern und politischen Handlangern das Handwerk zu legen? Eins sollte uns klar sein: die Profiteure des Tiermords handeln nicht bloß aus vermeintlicher Überlegenheit oder moralischen Vorurteilen gegenüber den Tieren. Das industrielle Töten von Tieren und die Zerstörung des Klimas und der Natur insgesamt sind in der ökonomischen Struktur des Kapitalismus angelegt – sie sind grausame Realität, weil sie für eine kleine Gruppe von KapitalbesitzerInnen profitabel sind. Für sie sind die Körper der Tiere nur Rohstoffe, während die Arbeitskraft der Schlachthof-ArbeiterInnen dazu dient, ihre Profite zu sichern. Sklavenähnliche Bedingungen, Hungerlöhne, unbezahlte Überstunden, körperliche und psychische Erkrankungen sind dafür die „Belohnung“. Kaum eine Industrie ist dermaßen von systematischer Spaltung der Belegschaften durch Werkverträge und Leiharbeit betroffen, in kaum einer Industrie wird die gewerkschaftliche Organisierung der ArbeiterInnen dermaßen unterdrückt. Diejenigen, die dazu verdammt sind, täglich ihre Arbeitskraft an die Fleisch-KapitalistInnen zu verkaufen, haben eines mit den Tieren gemein: ihre objektive Feindschaft gegenüber dem Kapital.
Darum ist die Frage, „wie wir leben wollen“ keine Frage der Ethik, sondern eine Systemfrage. Wenn wir wollen, dass alle Produktion demokratisiert und auf die Bedürfnisse von Menschen und Natur ausgerichtet wird anstatt auf die Profite weniger Kapitalbesitzer, dann müssen wir die Eigentumsfrage stellen. Wir müssen – wie Marx und Engels es im kommunistischen Manifest forderten –, despotisch in die Eigentumsverhältnisse eingreifen. Wir können nur demokratisch über die Produktion bestimmen, wenn die Produktionsmittel in unserer Hand sind. Erst ein revolutionärer Bruch mit dem kapitalistischen System schafft die Bedingungen für eine Produktions- und Lebensweise, in der Mensch und Tier nicht länger ein erniedrigtes und geknechtetes Leben fristen müssen, in der Kriege und Naturzerstörung der Vergangenheit angehören.
Das alles ist uns als Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung, als Klima- und Umweltbewegung doch längst bewusst: Der tägliche Widerstand – die direkten Tierbefreiungen oder die Kampagnenarbeit – führen unweigerlich zur Konfrontation mit dem Tier-Kapital. Von hier aus müssen wir die Entwicklung unserer politischen Strategie vorantreiben. Einzig das Bündnis mit antikapitalistischen Kräften der ArbeiterInnenbewegung kann dem Klassenkampf von oben mit seiner zerstörerischen Politik wirklich etwas entgegensetzen.
Wir sind heute hier, um den Profiteuren des Mordsgeschäfts, ihren ideologischen Vorfeldorganisationen und politischen Handlangern den Kampf anzusagen. Meinen wir das aber ernst, können wir uns Angst vor der eigenen Courage nicht leisten. Wir müssen eine schlagkräftige, antikapitalistische Bewegung aufbauen, denn nur sie ist fähig zu einer radikalen ökologischen Wende! In diesem Sinne: An die Arbeit:
Nieder mit der EuroTier!
Auch die Natur wartet auf die Revolution!
Für Samstag, den 8. Oktober 2016 rufen der Bundesausschuss Friedensratschlag, die Kooperation für den Frieden und die Berliner Friedenskoordination zu einer bundesweiten Demonstration in Berlin auf (Beginn: 12 Uhr Alexanderplatz, Ecke Otto-Braun-Straße). Wir haben den Aufruf unterzeichnet, rufen ebenfalls zur Teilnahme auf und dokumentieren an dieser Stelle den Aufrufstext. Weitere Informationen: www.friedensdemo.org
Oktober 2016,
Assoziation Dämmerung
Die aktuellen Kriege und die militärische Konfrontation gegen Russland treiben uns auf die Straße. Deutschland befindet sich im Krieg fast überall auf der Welt. Die Bundesregierung betreibt eine Politik der drastischen Aufrüstung. Deutsche Konzerne exportieren Waffen in alle Welt. Das Geschäft mit dem Tod blüht.
Dieser Politik leisten wir Widerstand. Die Menschen in unserem Land wollen keine Kriege und Aufrüstung – sie wollen Frieden.
Die Politik muss dem Rechnung tragen. Wir akzeptieren nicht, dass Krieg immer alltäglicher wird und Deutschland einen wachsenden Beitrag dazu leistet: in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, Jemen, Mali. Der Krieg in der Ukraine ist nicht gestoppt. Immer geht es letztlich um Macht, Märkte und Rohstoffe. Stets sind die USA, NATO-Mitgliedstaaten und deren Verbündete beteiligt, fast immer auch direkt oder indirekt die Bundesrepublik.
Krieg ist Terror. Er bringt millionenfachen Tod, Verwüstung und Chaos. Millionen von Menschen müssen fliehen. Geflüchtete brauchen unsere Unterstützung und Schutz vor rassistischen und nationalistischen Übergriffen. Wir verteidigen das Menschenrecht auf Asyl. Damit Menschen nicht fliehen müssen, fordern wir von der Bundesregierung, jegliche militärische Einmischung in Krisengebiete einzustellen.
Die Bundesregierung muss an politischen Lösungen mitwirken, zivile Konfliktbearbeitung fördern und wirtschaftliche Hilfe für den Wiederaufbau der zerstörten Länder leisten.
Die Menschen brauchen weltweit Gerechtigkeit. Deshalb lehnen wir neoliberale Freihandelszonen wie TTIP, CETA, ökologischen Raubbau und die Vernichtung von Lebensgrundlagen ab.
Deutsche Waffenlieferungen heizen die Konflikte an. Weltweit werden täglich 4,66 Milliarden Dollar für Rüstung verpulvert. Die Bundesregierung strebt an, in den kommenden acht Jahren ihre jährlichen Rüstungsausgaben von 35 auf 60 Milliarden Euro zu erhöhen. Statt die Bundeswehr für weltweite Einsätze aufzurüsten, fordern wir, unsere Steuergelder für soziale Aufgaben einzusetzen.
Das Verhältnis von Deutschland und Russland war seit 1990 noch nie so schlecht wie heute. Die NATO hat ihr altes Feindbild wiederbelebt, schiebt ihren politischen Einfluss und ihren Militärapparat durch Stationierung schneller Eingreiftruppen, Militärmanöver, dem sogenannten Raketenabwehrschirm – begleitet von verbaler Aufrüstung – an die Grenzen Russlands vor. Das ist ein Bruch der Zusagen zur deutschen Einigung. Russland antwortet mit politischen und militärischen Maßnahmen. Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden. Nicht zuletzt steigert die Modernisierung genannte Aufrüstung der US-Atomwaffen die Gefahr einer militärischen Konfrontation bis hin zu einem Atomkrieg.
Sicherheit in Europa gibt es nur MIT und nicht GEGEN Russland.
Wir verlangen von der Bundesregierung:
Wir sagen Nein zu Atomwaffen, Krieg und Militärinterventionen.
Wir fordern ein Ende der Militarisierung der EU. Wir wollen Dialog, weltweite Abrüstung, friedliche zivile Konfliktlösungen und ein auf Ausgleich basierendes System gemeinsamer Sicherheit.
Für diese Friedenspolitik setzen wir uns ein.
Wir rufen auf zur bundesweiten Demonstration am 8.10.2016 in Berlin.
»Postantideutsche« wenden den Internationalismus gegen Klassenbewusstsein und Antiimperialismus
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Die globalen Krisen und kriegerischen Konflikte der vergangenen Jahre sind auch an der deutschen Linken nicht spurlos vorübergegangen. Das EU-Austeritätsregime in Griechenland, die Aufstände in der Türkei, die Bürgerkriege in Syrien und in der Ukraine, die Selbstverteidigungskämpfe der Kurden und ihr Widerstand gegen den »Islamischen Staat« oder auch die Entstehung von Nuit debout in Frankreich geben Anlass für Debatten über internationale Solidarität und die Notwendigkeit einer starken internationalistischen Bewegung. Dabei werden neue politische Grenzen gezogen, Bündnisse geschlossen und politische Felder neu besetzt.
Auch sogenannte »postantideutsche« und »antinationale« Gruppen scheinen sich im Zuge dieser Entwicklungen um eine Kurskorrektur zu bemühen. Haben sie den Internationalismus bis vor Kurzem noch aggressiv bekämpft, schicken sich »Antinationale« nun an, ihre Politik unter dem Schlagwort des »internationalen Antinationalismus« global auszurichten und sich transnational zu vernetzen. Immer mehr migrantische, internationalistische und antiimperialistische Linke nehmen das zum Anlass, Bündnisse mit »antinationalen« Gruppen einzugehen oder sich einer Zusammenarbeit zu öffnen. Es scheint schließlich, als würden sich ehemalige, zur Vernunft gekommene »Antideutsche« nun dem Internationalismus zuwenden.
Doch das Gegenteil ist der Fall: Bei näherer Betrachtung entpuppt sich der »internationale Antinationalismus« dieser Gruppen als alter »antideutscher« Wein in neuen Schläuchen. Zentrale neokonservative Ideologeme werden beibehalten und modernisiert. Jene, die sich jahrelang um die Demontage und affirmative Wendung linker Gesellschaftskritik und ihrer Begriffe bemüht haben, melden jetzt Anspruch auf den Internationalismus als weiteres zentrales Feld linker Politik an und versuchen, es ideologisch und politisch zu besetzen.
Die Kritik dieser Vereinnahmungsversuche und des »internationalen Antinationalismus« ist das zentrale Anliegen dieses Papiers. Zuerst wird dazu der historisch-gesellschaftliche Kontext der aktuellen Entwicklung skizziert. Denn seit mehreren Jahrzehnten zeichnet sich nun die Tendenz ab, dass Begriffe der marxistischen Ideologiekritik und revolutionären Linken von reformistischen, exlinken oder antilinken Kräften so umgedeutet − nicht selten sogar ihre Bedeutung in das genaue Gegenteil verkehrt − werden, dass sie für den Erhalt und die Verteidigung bestehender Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse statt für deren Abschaffung in Stellung gebracht werden können. Internationalismus ist ein weiterer Begriff, dem eine solche regressive Vereinnahmung droht. Anschließend werden Inhalt und Praxis des »internationalen Antinationalismus« analysiert und die Gefahr aufgezeigt, die für eine zeitgemäße linke Politik von ihm ausgeht.
Die »Antinationalen«, die sich neuerdings als emphatische Internationalisten inszenieren, sind keine tauglichen Bündnispartner für jene, denen noch ernsthaft an internationaler Solidarität mit Klassen- und Emanzipationskämpfen gegen Ausbeutung, Krieg und Unterdrückung gelegen ist. In diesem Sinne soll der Text eine erste kritische Handreichung sein. Die kommunistische wie jede andere antikapitalistische Linke muss die politischen Übernahmeversuche der »Antinationalen« begreifen und den »internationalen Antinationalismus« als das zurückweisen, was er ist: Ein »internationalistisch« camouflierter Angriff auf linke und antiimperialistische Positionen, der revolutionäre Kritik neutralisieren hilft und auf die weitere politisch-ideologische Integration fundamental antikapitalistischer Opposition in die deutsche Staatsräson und den Wertekanon des NATO-Imperialismus abzielt.
Neoliberal gewendete Begriffe
Schon Rosa Luxemburg hatte wenige Monate vor ihrer Ermordung einen Strategiewechsel der Reaktion festgestellt: Der Kampf »Klasse gegen Klasse« werde nicht mehr mit »offenem Visier« geführt. »Die Schutztruppen der alten Ordnung treten nicht unter eigenen Schildern und Wappen der herrschenden Klassen, sondern unter der Fahne der ›sozialdemokratischen Partei‹ in die Schranken.«
Die SPD hat sich schon vor langer Zeit als politisches Personal des Kapitals und dessen Expansionsbestrebungen offenbart und von der sozialistischen Agenda verabschiedet. Aber sie, wie alle anderen bürgerlichen Parteien, und die Linken, die heute, zumindest objektiv, dem Geschäft der Integration und Neutralisation revolutionärer Politik nachgehen, bedienen sich wieder und weiter des Vokabulars emanzipativer Kräfte und betreiben dessen Deformation unter den Vorzeichen der totalitären Ökonomie des Neoliberalismus und dessen neokonservativer Ideologie. Das geschieht in einem orwellianischen Ausmaß: Die genuinen Bedeutungen von Begriffen werden in ihr komplettes Gegenteil verkehrt (»Krieg ist Frieden«) und schließlich dem heteronomen Zweck der Produktion falschen Bewusstseins untergeordnet. »Das Wort ›Demokratie‹ ist zum Schlagwort für Terror, Folter und massive Beschneidung individueller und kollektiver Rechte verkommen«, kommentierte die US-amerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis den Siegeszug der Neocons. Die Logik habe in der »Sprache des Imperiums« keine Bedeutung mehr, meint der italienische Philosoph Domenico Losurdo. »Wir haben es gerade mit Theologie zu tun.« Anders sei es nicht zu erklären, dass Osama bin Laden, »der zunächst als Freiheitskämpfer gegen die in Afghanistan einschreitenden sowjetischen Truppen, gegen das Reich des Bösen und gegen den neuen Hitler, der in Moskau wohnte, gefeiert wurde, später radikal seine Natur verwandelt und schließlich selber die Rolle Hitlers und des Satans spielte«.
Im vergangenheits- und emanzipationspolitischen Diskurs nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus haben neokonservativ gewendete Exlinke zunächst den Antisemitismusbegriff so lange verformt und überdehnt, dass linker Antizionismus, sogar emanzipative Kritik an Israels Staatsideologie, schließlich jegliche oppositionelle Haltung gegenüber der Kriegs-, Besatzungs- und Unterdrückungspolitik israelischer Regierungen gegenüber den Palästinensern als »antisemitisch« stigmatisiert wurden. Nicht mehr der alle gesellschaftlichen Verhältnisse überwölbende Kapitalismus, sondern »linker Antisemitismus« wurde als Wurzel allen Übels ausgemacht. Mittlerweile ist die Verstümmelung des Antisemitismusbegriffs so weit fortgeschritten, dass prowestliche rechtspopulistische und neofaschistische – nicht selten sogar genuin antisemitische – Parteien und Organisationen, wie FPÖ, AfD, PI und EDL, flankiert von »antideutschen« und »antinationalen« Kronzeugen, sich seiner bedienen, um Antiimperialisten und andere Linke zu attackieren.
Die schlimmsten Auswüchse, nämlich die Instrumentalisierung des Völkermordes des NS-Staates an den Juden als »Argument« für NATO-Kriege (das heißt stets auch die Realisierung von deutschen Großmachtträumen im transatlantischen Machtblock), die spätestens nach dem von der rot-grünen Schröder-Regierung befohlenen Angriffskrieg gegen Jugoslawien »wegen Auschwitz« offenkundig waren, machen deutlich, wohin die Reise mit den fast ausschließlich gegen Antiimperialisten und andere Kriegsgegner gerichteten Antisemitismusvorwürfen geht: Es geht um die Legitimierung von westlichen Aggressionen und deren Camouflierung als Interventionen zur Verteidigung von Menschenrechten und Verhinderung von Genoziden.
Der Kommunist, Widerstandskämpfer und Mitgründer der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) Emil Carlebach hatte schon 1996 anlässlich der Debatten um das Buch »Hitlers willige Vollstrecker« von Daniel Goldhagen (der nicht zufällig eine »deutsche Lösung für den Balkan« propagierte und forderte: »Um das Völkermorden zu beenden, muss die NATO Serbien besiegen, besetzen und umerziehen«), zu dessen schärfsten Kritikern er gehörte, vor einer Abkehr von der Klassenfrage zugunsten einer »›antideutschen‹ Stoßrichtung« gewarnt. Vergeblich. In Harmonie mit einer »antinationalen« Begleitmusik wurde eine Wende von der historisch-materialistischen zur bürgerlichen-idealistischen Gesellschaftsanalyse in weiten Teilen der ehemals antikapitalistischen Linken durchgesetzt: Ein herbeifantasiertes »deutsches Wesen« und eine vermeintlich ewig gültige Ideologie des Antisemitismus (dessen Ausbreitung nun vorwiegend der antiimperialistischen Linken angelastet wird) werden zum Hauptwiderspruch erhoben und damit stillschweigend Goldhagens größter Irrtum – das Bewusstsein bestimme das Sein – perpetuiert.
Ähnlich wie mit dem Antisemitismusbegriff wird von »Antideutschen«, »Antinationalen« und »Postantideutschen« mit dem Faschismusbegriff verfahren. Die auf Basis des historischen Materialismus entstandenen Faschismusdefinitionen von marxistischen Theoretikern, die den Faschismus als brutalste Form der Klassenherrschaft, »nacktesten, frechsten, erdrückendsten und betrügerischsten Kapitalismus« oder »Form bürgerlicher Herrschaft« erkannt hatten, wurden von den Füßen zurück auf dem Kopf gestellt. Faschistische Bewegungen und ihre Verbrechen werden als Ausgeburt »nationalsozialistischer Ideologie« und »antikapitalistische Revolte« der »Zukurzgekommenen« uminterpretiert. Max Horkheimers Diktum »Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen« soll nicht mehr gelten – schuld an der faschistischen Barbarei ist vor allem einer: der »Prolet-Arier«. Gemäß dieser Prämisse propagieren »emanzipatorische Linke« heute offen, wie in einer »antideutschen« Publikation geschehen, ein »Denken in Eliten«, weil es »den sozialistischen Aspekt der Gleichheit in der Gemeinschaft verneint«. Fazit: »Die Betonung von Egoismus ist antifaschistisch oder zumindest eine Form des Antifaschismus.«
Viele linke Akteure, die die Kapitalismuskritik noch als wichtiges Anliegen postulieren, haben den Antikapitalismus-Begriff völlig entleert, von der Klassenfrage abgekoppelt und damit seines revolutionären Geistes beraubt. Kapitalismus wird nicht mehr als Klassenherrschaft begriffen, sondern vorwiegend als Nationalismusproblem: eine Form falschen Bewusstseins. So beklagen »antinationale« Gruppen ein unbestimmtes »Schlamassel des Kapitalismus«, das vom »völkischen Mob« kommt, manchmal auch vom »deutschen Mittelstand« – und keinesfalls etwas mit einem global agierenden internationalen Großkapital und seinen imperialistischen Kriegen zu tun hat.
Die Erosion kritischer Theorie ist ins Rückenmark der antikapitalistischen Linken vorgedrungen. Nun droht die Entstellung und Verkehrung des Internationalismus-Begriffs.
»Internationaler Antinationalismus«
Unter dem politischen Label »internationaler Antinationalismus« beginnen »antinationale« bzw. »postantideutsche« Gruppierungen, wie das UmsGanze-Bündnis (der zentrale Stichwortgeber der sogenannten »Antinationalen«), nun seit etwa 2011, sich der »internationalen Solidarität« zu widmen und dabei den Begriff des Internationalismus für sich in Anspruch zu nehmen. Waren erst der »Arabische Frühling«, die Proteste gegen die Spardiktate in Griechenland und die Blockupy-Demos in Frankfurt Anlässe zur erklärten transnationalen Solidarität mit sozialen Bewegungen, wird eine international ausgerichtete Politik spätestens seit den bewaffneten Kämpfen um das kurdische Kobanê im Herbst 2014, dem Bürgerkrieg in Syrien und dem Widerstand gegen den »Islamischen Staat« (IS) zum besonders wichtigen Feld »antinationaler« Politik erklärt. In der gegenwärtigen »Flüchtlingskrise« heben auch »antinationale« Gruppen den Zusammenhang von Ausbeutung, Krieg und Flucht hervor, und das UmsGanze-Bündnis hat zu einer antirassistischen Kampagne gegen die AfD aufgerufen. Es mag also scheinen, als habe ein Kurswechsel stattgefunden: Weg von den neokonservativen Positionen der »Antideutschen« und ihrem betont zynischen, elitären und affirmativen Habitus, hin zur sozialen Frage, zu politischer Mobilisierung und internationaler Solidarität.
Die vermeintlich internationalistische Wende der »Antinationalen« ist jedoch keine Abkehr von »antideutschen« Positionen, sondern vielmehr deren Modernisierung. Das zeigen nicht nur individuelle Kontinuitäten, das Festhalten an »antideutschen« Ideologiefragmenten in den Reihen der »Antinationalen« sowie organisatorische Verbindungen – der angebliche »Antifaschist« beispielsweise, der Sahra Wagenknecht auf dem Bundesparteitag der Partei Die Linke im Juni 2016 mit einer Torte bewarf, war über das »antinationale« Jugendmagazin Straßen aus Zucker akkreditiert, gehört aber ins Lager der antilinken und neokonservativen »antideutschen« Gruppe AG No Tears for Krauts –, sondern auch die politischen Inhalte des »internationalen Antinationalismus« und seine Praxis. So wird etwa internationale Solidarität von der Klassenfrage getrennt, eine äquidistante Position zu imperialistischen Aggressionen und deren Objekten eingenommen, und klassenkämpferische, antiimperialistische Linke werden unter dem Deckmantel »internationaler Solidarität« weiterhin offensiv bekämpft und historisch delegitimiert. Seine Träger richten »antideutsche« Ideologie entlang des aktuellen Weltgeschehens neu aus und nutzen das politische Kapital der vergleichsweise gut organisierten »antinationalen« Strömung, um frühere taktische Fehler und das Abdriften in offen reaktionäre Ideologie zu kaschieren, Ansprüche auf linke Begriffsfelder durchzusetzen und entsprechende Bündnisse und aktivistische Praxis auf den Weg zu bringen. Damit droht auch dem Internationalismus, einem zentralen Terrain linker und marxistisch orientierter Politik, die affirmative Wende.
Antinationalismus statt Klassenkampf
Theoretisches und politisches Herzstück »antinationaler« Politik ist – der Name verrät es – die Kritik des Nationalismus, der als Basisideologie bürgerlicher Vergesellschaftung verstanden wird. »Die Identifikation mit dem nationalen ›Wir‹ ist ein ideologischer Fluchtreflex vor dem Druck kapitalistischer Konkurrenz und Vereinzelung, aber zugleich ihr bestes Schmiermittel«, schrieb das UmsGanze-Bündnis im Jahr 2010. Nationalismus und, daraus abgeleitet, »Staatsidealismus« werden als ideologischer Kitt verstanden, der gesellschaftliche Widersprüche befriedet und sozialen Kämpfen bis in die linke und gewerkschaftliche Bewegung hinein entgegensteht: Auch den sozialpartnerschaftlichen Kurs der DGB-Gewerkschaften etwa kritisieren »Antinationale« für dessen Orientierung auf den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Zweifelsohne ist der Kampf gegen Nationalismus, ebenso gegen die »Sozialpartnerschaft« ein unerlässlicher Bestandteil linker, vor allem antikapitalistischer Politik. Es kommt jedoch darauf an, unter welchen Prämissen und mit welcher Stoßrichtung er geführt wird. Ein Blick auf die Textproduktion der »Antinationalen« zeigt, dass die Kritik des Nationalismus ohne Bezugnahme auf dessen klassenversöhnende Funktion formuliert und seine Ideologie allein ins Zentrum politischer und theoretischer Intervention gestellt wird: Nicht die ideologische Verschleierung des Klassenwiderspruchs, sondern die Verschleierung von nicht weiter spezifizierten »gesellschaftlichen Widersprüchen« überhaupt steht im Zentrum »antinationaler« Kritik. Nationalismus wird nicht dafür kritisiert und bekämpft, dass er Ideologie an die Stelle von möglichem Klassenbewusstsein setzt und so die kollektive Organisation und Gegenwehr der Arbeiterklasse verhindert. Er wird lediglich für seinen ideologischen Charakter an sich kritisiert – Ziel und Richtung »antinationaler« Nationalismuskritik bleiben daher diffus und unbestimmt. Das hat seine Ursache in einem »wertkritischen«, um das Klassenverhältnis verkürzten Strukturmarxismus (einem Marx-Verständnis, das bürgerliche Herrschaftsverhältnisse auf die vermeintlich »abstrakten« Imperative ökonomischer Strukturen reduziert und das Weltveränderungspostulat der elften Feuerbachthese unterschlägt), der von Theoretikern wie Moishe Postone und Michael Heinrich propagiert wird und mit dem »antinationale« Gruppen ihren »antideutschen« Vorläufern bruchlos folgen. (1)
Nicht das Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat, sondern die Annahme eines verselbständigten und abstrakten Zwangs kapitalistischer Vergesellschaftung kennzeichnet daher das Kapitalismusverständnis der »Antinationalen«. »Aufs Ganze betrachtet«, heißt es im zuvor zitierten Text, habe sich das »System gesellschaftlicher Abhängigkeit und Ausbeutung gegen alle verselbständigt«. In einem Aufruf gegen den Wiener Akademikerball vom Januar 2012 schrieb das UmsGanze-Bündnis, »die personalisierende Kritik an ›Managern‹ und ›Bankern‹« würde »den Systemcharakter anonymer Verwertungszwänge im Kapitalismus« verkennen. Jüngere Texte schlagen in dieselbe Kerbe: »Die Suche nach den Schuldigen ist im Kapitalismus endlos, denn es gibt sie einfach nicht. Und ist darüber hinaus saugefährlich für die, die als Schuldige ausgemacht werden«, sorgte sich die »antinationale Jugendzeitung« Straßen aus Zucker im Januar 2016 um das Wohlergehen der Produktionsmittelbesitzer. Das Kapitalismusverständnis der »Antinationalen« wiederholt also mit Marx‘schen Begriffen die neoliberalen Reden von abstrakten, angeblich vom Willen der Kapitalbesitzer unabhängigen »Sachzwängen«, denen Politik und ökonomische Eliten ausgeliefert seien und die mit dem Handeln konkreter Akteure angeblich nichts zu tun hätten. Einzelne Kapitalisten oder Funktionsträger aus Wirtschaft und Politik für ihr Handeln verantwortlich zu machen, gilt den »Antinationalen« daher als »verkürzte« und »personalisierte«, mithin »strukturell antisemitische« Kapitalismuskritik. »Problematisch war häufig die Staatsfixiertheit ihrer Forderungen und eine oft moralisierend verkürzte, nationalistisch und verschwörungstheoretisch unterlegte Kapitalismuskritik«, verteilte das UmsGanze-Bündnis im März 2012 Kopfnoten an Bewegungen wie Occupy, die im Zuge der globalen Wirtschaftskrise entstanden waren. »Klar gab es auf der Blockupy-Demo strukturell antisemitische Kritik an ›Bankern und Bonzen‹, an vermeintlichen ›Finanzoligarchen‹ und am Zins. Ein paar Idioten haben sich mit Edding Boykottaufrufe gegen Israel auf den Bauch gemalt«, kommentierte das Bündnis im selben Jahr die Proteste gegen die Austeritätspolitik der EU im Interview mit der Zeitschrift konkret. Die »verkürzte« und »strukturell antisemitische« Kritik, das versicherte UmsGanze, gedenke man dieser Bewegung jedoch noch auszutreiben.
Nicht Aufklärung über die Verschleierung bürgerlicher Klassenherrschaft, sondern eine abstrakt-allgemeine Ideologiekritik ist also Sinn und Zweck »antinationaler« Nationalismuskritik. In der Konsequenz tritt Antinationalismus an die Stelle des Klassenkampfs, weil die Aufhebung der nationalistischen Vernebelung der »verselbständigten« kapitalistischen Vergesellschaftung als primärer Zweck politischer und theoretischer Intervention verstanden wird. Die Parole »der Hauptfeind steht im eigenen Land« wird so in ein nebulöses, unkonkretes »der Hauptfeind ist das eigene Land« verdreht. Diese Verschiebung bildet bei den »Antinationalen« die Basis sowohl der Auseinandersetzung mit weltpolitischen Fragen als auch ihrer Attacken gegen klassenkämpferische und antiimperialistische Linke. Der »internationale Antinationalismus« wiederholt die bereits genannten Fehler auf globaler Ebene.
Globalisierter Strukturmarxismus
Mittlerweile sind die »Antinationalen« transnational vernetzt, und Impulse bundesdeutscher Gruppen besitzen Strahlkraft bis in die britische und griechische Linke hinein: Unter dem Label des »internationalen Antinationalismus« haben das UmsGanze-Bündnis und linke Organisationen aus England und Griechenland 2013 die europaweite und »antiautoritäre« Plattform Beyond Europe ins Leben gerufen. »Internationaler Antinationalismus konkret!«, übertitelte die Basisgruppe Antifaschismus, der Bremer UmsGanze-Ableger, ihren Hinweis auf die Gründung.
Ein Text der UmsGanze-Gruppe Antifa AK Köln vom Mai 2012 umreißt, worum es dem »internationalen Antinationalismus« geht. Vor dem Hintergrund der europäischen Spardiktate und der griechischen Krise werden verschiedene linke, angeblich »staatsidealistische« Ansätze – zwischen tatsächlich staatstragenden kritikwürdigen Strategien und solchen, die ein taktisches Verhältnis zur Arbeit in und mit bestehenden Institutionen haben, wird dabei nicht unterschieden – als »reaktionär« zurückgewiesen und der »internationale Antinationalismus« als »Stoßrichtung für die soziale Revolte« präsentiert. Gefordert werden die »Abgrenzung gegenüber der staatstragenden Linken, und die Ablehnung einer sogenannten ›Solidarität der Völker‹« – gemeint ist u.a. die Politik der KKE – als »klare inhaltliche Linie« verschiedener »antinationaler« Gruppen. Über deren Aktivitäten heißt es: »Bei den Aktionen ging es darum, die Nation als unhinterfragter Bezugspunkt der Politik zu kritisieren und in symbolischer Aktionsform den vorgestellten Nutzen für das jeweilige nationale Allgemeinwohl anzugreifen.« Dabei stünde die Idee »antinationaler Solidarität« der »Verpflichtung auf die Nation« diametral entgegen.
Der »internationale Antinationalismus« ist keine geschlossene und elaborierte Theorie und Praxis, sondern bezeichnet die Internationalisierung »antinationaler« Politik. Deutlich wird jedoch, dass die falsche Prämisse eines »verselbständigten« kapitalistischen Systemzwangs sowie die diffuse, unkonkrete Staatskritik beibehalten und lediglich auf die globalen Verhältnisse zugeschnitten werden: Dem Unwillen, Ausbeuter im Klassenverhältnis konkret zu benennen, entspricht die Weigerung, konkrete Klassenfraktionen oder Akteure des Imperialismus als Initiatoren und Nutznießer von Austeritätspolitik oder Krieg auszumachen. Je affirmativer und zahnloser die Politik, desto verbalradikaler fällt die Gegnerschaft der »Antinationalen« zu der völlig abstrakten »Gesamtscheiße« aus, die mit einer klassisch autonom-linksradikalen, infantilen Verklärung von Straßen- und sozialen Kämpfen einhergeht. Auch das Ersetzen des Klassenkampfs durch abstrakten »Antinationalismus« wird fortgesetzt: Nicht Internationalismus, also die Solidarität mit Kämpfen der Arbeiterklasse und Marginalisierten in anderen Ländern, sondern eine irgendwie geartete Gegnerschaft zu »Staat, Nation und Kapital« steht im Zentrum des »internationalen Antinationalismus«. Der vermeintliche Internationalismus der »Antinationalen« entpuppt sich so bestenfalls als globalisierter systemkonformer Strukturmarxismus.
»Antinationale« Äquidistanz
Fast immer werden die Interventionen »antinationaler« Gruppen mit einer klaren Absage an klassenkämpferische und antiimperialistische Positionen verbunden. Das ist kein Zufall: Der unkonkreten Gegnerschaft zu Nationalismus und »Staatsidealismus« entspricht eine Äquidistanz in globalen Konflikten, der gemäß angeblich der in wachsendem Maß aggressive NATO-Imperialismus qualitativ auf gleicher Stufe steht mit dem vergleichsweise moderaten und militärische Interventionen vermeidenden russischen und chinesischen. Auf diese verkehrte Darstellung der wahren Macht- und Ausbeutungsverhältnisse folgen nicht nur politische Passivität und Paralyse revolutionärer Politik – zum Hofieren ukrainischer Faschisten durch die deutsche Außenpolitik beispielsweise schweigt die Mehrheit der »Antinationalen« sich ebenso beharrlich aus wie zu den deutschen Rüstungsexporten nach Israel oder den schmutzigen Deals der Bundesregierung mit dem saudi-arabischen Regime –, sondern vor allem auch Angriffe auf friedensbewegte, antiimperialistische und internationalistische Linke.
Etwa die Leipziger UmsGanze-Gruppe the future is unwritten richtete sich in einem Demonstrationsaufruf anlässlich eines geplanten Neonazi-Aufmarsches explizit gegen linke Antiimperialisten. Einige Positionierungen innerhalb der deutschen Linken seien »anschlussfähig für Querfront-Versuche«, so ihr Befund. Der »aus DDR-Zeiten entlehnte Begriff der ›Völkerfreundschaft‹«, auf den sich auch die Neonazi-Demonstration berief, mache schließlich »nicht umsonst die ›Völker‹ als Ganzes – und nicht die unterdrückten Menschen – zu Subjekten der gegenseitigen Solidarität.« Mit solchen Aussagen wird jedoch nicht nur völlig vom historischen Kontext des Begriffs der »Völkerfreundschaft« abstrahiert, sondern auch nahegelegt, dass ein direkter Weg vom Volksbegriff der realsozialistischen Länder zur NS-Ideologie der Hitlerfaschisten führe – eine Verbindung, die sich auch in Fällen fragwürdiger Verwendung des Völkerfreundschaft-Begriffs nicht ziehen lässt. Auf die Unterscheidung eines plebejischen Volksbegriffs, wie er in der kommunistischen Bewegung Verwendung findet, von dem metaphysisch-nationalistischen und rassischen Volksbegriff der Rechtspopulisten und (Neo-)Faschisten wird dabei gänzlich verzichtet. Für die klassenneutrale, nicht selten sogar klassenchauvinistische Ideologie der »Antinationalen« ist »das Volk« exakt das, was völkische Rechte darunter verstehen. Auch heute, so die Leipziger »Antinationalen« weiter, gäbe es »Linke, die das faschistoide Assad-Regime gegen den ›US-Imperialismus‹ verteidigen wollen«. Zu jenen zähle etwa die SDAJ, deren Gegnerschaft zum Imperialismus als simplifiziert und verkürzt beschrieben wird: »Der Versuch, die Probleme der Welt einseitig in den Interessen der USA und ihrer Verbündeten auszumachen, muss scheitern, da eine Einteilung der Welt und der in ihr befindlichen Staaten in gut (antiimperialistisch/antikapitalistisch) und schlecht (imperialistisch/kapitalistisch) die Komplexität der Wirklichkeit auf ein dualistisches Weltbild reduziert«, ließ man wissen. Auch in »vermeintlich antiimperialistischen Staaten« würden schließlich »aufgrund staatlicher Herrschaft und Kapitalverhältnis« Gewalt und Ausbeutung vorherrschen, was »seitens antiimperialistischer Linker« aber ausgeblendet würde. »Gegen Nazis, Jihadismus und Ba’athismus – Für einen internationalen Antinationalismus!«, lautete entsprechend die von den »Antinationalen« ausgegebene Parole. Nicht nur wird dabei offengelassen, welche antiimperialistischen Linken genau gemeint sind und die Haltung vieler linker Internationalisten falsch dargestellt (nur die wenigsten Antiimperialisten blenden Repressalien in anti- oder gemäßigt imperialistischen Ländern aus – sie machen sich allerdings die Doppelmoral und den Alarmismus der westlichen Propaganda nicht zu eigen). Auch die wesentlichen Unterschiede zwischen dem westlichen Imperialismus und jenen Staaten, die sich ihm zu entziehen versuchen oder sich gegen ihn verteidigen, werden so verwischt – ganz so, als sei die Außenpolitik etwa Kubas oder Venezuelas ebenso expansiv und relevant für den Bestand globaler Macht- und Ausbeutungsstrukturen wie die der USA, Deutschlands und anderer NATO-Länder, deren Einflussnahme und Interventionen die von den »Antinationalen« ausgemachten Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse in den »vermeintlich antiimperialistischen Staaten« im Übrigen meist noch erheblich verschlimmern. Vordergründig wollen die »Antinationalen« mit ihrer »Kritik« auf blinde Flecken des linken Antiimperialismus hinweisen – tatsächlich relativieren, nicht selten sogar hofieren sie den westlichen Imperialismus.
»Der Hauptfeind ist das eigene Land«
Die Äquidistanz der »Antinationalen« führt sogar dann nur bestenfalls zur Passivität, wenn gerade der deutsche Imperialismus konsequent angegriffen werden müsste. Das zeigt das Beispiel der Ukraine und das beredte Schweigen »antinationaler« Gruppen zur antirussischen Hetze, mit der die expansive deutsch-europäische Außenpolitik flankiert wird. Das mehr oder weniger offene Paktieren der ökonomischen Eliten Deutschlands und ihres politischen Personals mit ukrainischen Nationalisten und neofaschistischen Organisationen hätte gerade all jene auf den Plan rufen müssen, die sich einer »gegen Deutschland« gerichteten linken Politik verschrieben haben. Selten gab es in jüngster Zeit schließlich zwingendere Anlässe für wahrhaft antideutsche Interventionen als die deutsche Unterstützung für die Mörderbanden etwa des Rechten Sektors sowie den offen demagogischen antirussischen Kurs der deutschen Meinungsmacher. Stattdessen wurden jedoch angebliche »Putin-Fans«, echte oder vermeintliche »Querfront-Aktivisten« und die – oftmals als »Aluhüte« verächtlich gemachten – Besucher sämtlicher Friedensdemonstrationen, selbst wenn sie von Kommunisten, Sozialisten und anderen Linken organisiert und durchgeführt wurden, gegen die von der NATO und EU installierte ukrainische Putsch-Regierung und den anschließenden Angriffskrieg gegen die Aufständischen in der Ostukraine von »antinationalen« Gruppen als Bedrohung ausgemacht und pauschal als »rechts« denunziert.
Der völkische Nationalismus der Mehrheit der Alternative für Deutschland (AfD) etwa wird von den »Antinationalen« gegenwärtig – nicht zu Unrecht – skandalisiert und mit einer breiten Kampagne bedacht. Zum völkischen und mörderischen Nationalismus jener ukrainischen Kräfte, mit deren Hilfe die Bundesregierung die Integration der Ukraine in den neoliberalen EU-Block vorangetrieben hat, fällt ihnen jedoch nichts ein. Wo es also dringend einer fundamental linken Opposition gegen den wachsenden deutschen Bellizismus bedurft hätte, wurden ausschließlich linke Friedensaktivisten und Antiimperialisten sowie bürgerliche Kräfte mit vermeintlich oder tatsächlich reaktionären Motiven attackiert, die auf die drohende Kriegsgefahr reagiert hatten – und das deutsche Großkapital wieder einmal schadlos gehalten. Um Kritiker dieses links-liberalen Korporatismus, in den diese Politik mündet, mundtot zu machen, bemühten die »Antinationalen«, wie so häufig, den Vorwurf des »Antiamerikanismus«. Dass Deutschland seine Interessen auch und vor allem im Bündnis mit dem von den USA angeführten NATO-Imperialismus durchsetzt, eine »gegen Deutschland« gerichtete Politik also zwangsläufig auch die transatlantische Hegemoniepolitik der USA angreifen müsste, ficht den objektiv prowestlichen Kurs der »Antinationalen« dabei nicht an.
Komplizenschaft mit dem Imperialismus
Vor diesem Hintergrund sind auch die Motive »antinationaler« Gruppen für die Unterstützung der kurdischen Bewegung fragwürdig. »Selbstverständlich ist Rojava und auch die Politik der neuen, gewandelten PKK nicht widerspruchsfrei oder losgelöst von kritikwürdigen Entscheidungen und Strukturen«, schrieb die Antifa AK Köln im Dezember 2014 angesichts neuer Bündnisse mit kurdischen Gruppen, die man als Teil des UmsGanze-Bündnisses eingegangen war. »Wer aber aufgrund solcher ›Zweifel‹ sich der Solidarität sowie der Notwendigkeit der Parteiergreifung entzieht, verschließt die Augen: In Rojava wird nicht nur ein lokaler Kampf weit weg von uns geführt, sondern die Idee der universellen Humanität verteidigt.« Nun ist die Unterstützung für den Kampf der kurdischen Einheiten, die nicht bloß als Söldner der USA kämpfen, gegen den IS zweifellos richtig. Der Aufbauprozess in Rojava ist ein fortschrittliches Projekt und auch das Ende des PKK-Verbots ist eine richtige Forderung. Doch das vorgeblich »internationalistische« Engagement der »Antinationalen« für die kurdischen Kämpfer ist keines, das die imperialistische Geopolitik des westlichen Machtblocks auch nur annähernd in Frage stellen würde. Es folgt vielmehr der simplen, auch von der bürgerlichen Mainstream-Presse verbreiteten Lesart, laut der im Kampf gegen den IS der »aufgeklärte Westen« und die »Zivilisation« überhaupt verteidigt werden würde. Deshalb, aber auch weil Teile des kurdischen Kollektivs an der Seite des NATO-Imperialismus stehen, sind die »Antinationalen« auch bereit, es mit den »kritikwürdigen Entscheidungen und Strukturen« der Kurden nicht ganz so genau zu nehmen. Auf ähnlich pathetische Aussagen etwa über säkulare palästinensische Widerstandsgruppen oder kommunistische Aufständische in der Ostukraine, die ebenso »die Idee der universellen Humanität« verteidigen, wird man hier jedenfalls vergeblich warten – im Gegenteil, diese Bewegungen, wie alle anderen den Interessen des Westens zuwider laufenden, werden als »antisemitisch« und »völkisch« diffamiert.
Kaum verwunderlich ist insofern auch, dass »antinationale« Gruppen sich an der alarmistischen, häufig kulturrassistisch gefärbten Mobilisierung gegen Salafisten und andere Islamisten und Jihadisten beteiligen, ohne die Rolle des westlichen Imperialismus bei deren Erstarken und Aufrüstung zu berücksichtigen. Denn entsprechend der äquidistanten Haltung der »Antinationalen« wird der Jihadismus fälschlicherweise gehandelt, als seien Islamismus und westlicher Imperialismus voneinander unabhängig – möglicherweise sogar Kontrahenten. Die Förderung und Instrumentalisierung des Jihadismus durch den US-Imperialismus (es waren und sind bis heute maßgeblich die USA, deren Außenpolitik die sozioökonomische Basis des Jihadismus geschaffen und die ihn sogar militärisch unterstützt hat, beispielsweise in den 1980ern in Afghanistan um die Sowjetunion zu destabilisieren) wird ausgeblendet.
Die »Antinationalen« gehen unter dem Eindruck der jüngsten antimuslimischen Mobilisierung der Rechten in Deutschland und Europa mittlerweile auf Distanz zum offen kulturrassistischen Islamhass der »Antideutschen«. »Niemand ist mehr interessiert an ihrer kriegerischen Hetze, ihrem Islamhass, ihrer Kritiklosigkeit und penetranten Verehrung einer rechten israelischen Regierung, ihrem Rassismus und ihrer Fehleinschätzung zur politischen Weltlage«, erklärte Clara Felicia Meyer von der Frankfurter Gruppe Kritik & Praxis vor einiger Zeit zu deren Absetzbewegung von den »Antideutschen«. Dass aber die mittlerweile »Postantideutsche« genannten »Antinationalen« (darunter auch die Vorgängerorganisationen der Gruppe Kritik & Praxis) selbst es waren, die als Jubelperser des NATO-Imperialismus agierten und rassistisch-islamfeindliche Ressentiments jahrelang mit befeuert und unter Linken salonfähig gemacht haben, wird allzu gern verschleiert. Immerhin stellt die verschwörungstheoretisch benebelte Hetze der »Antideutschen« gegen »den Islam« (Konkret-Herausgeber Hermann Gremliza etwa fantasierte eine aus »Millionen von Muslimen« bestehende »islamistische Internationale« herbei, welche »die größte Gefahr» sei, die den Siegern aller bisheriger Geschichte droht«) bis heute so manches in den Schatten, was aus den Reihen von Pegida oder der AfD zu vernehmen ist. Statt jedoch die eigene Mitverantwortung für die mehr und mehr ausufernden antimuslimischen Hass-Kampagnen aufzuarbeiten, wähnen »Antinationale« sich gleichermaßen in Gegnerschaft zu Rechtspopulisten und Jihadisten und täuschen vor, sie hätten islamfeindliche Hetze schon seit jeher rigoros verurteilt.
In der Theorie bedeutet die wohl oder übel von NATO-Patriotismus umwehte und unweigerlich in westlichen Menschenrechtsimperialismus und Apologie der auf Angriffskrieg und Neokolonialismus zielenden »Verteidigungspolitischen Richtlinien« der Berliner Republik treibende Politik des »internationalen Antinationalismus« Aufklärungsverrat und einen Bruch mit den Erkenntnissen des historischen Materialismus, marxistischer Faschismusforschung und Ideologiekritik. Die äquidistante und paralytische – im Kern antirevolutionäre − Praxis der »postantideutschen« »Antinationalen« zeitigt die Demobilisierung von Antikriegsprotesten und klassenkämpferischem Widerstand. Sie fördert den Einbruch der bürgerlichen Extremkälte des Neoliberalismus in antikapitalistische Bewegungen und eine Entsolidarisierung signifikanter Teile der deutschen Linken von den Verdammten dieser Erde. Sie steuert schließlich nolens volens in eine Komplizenschaft mit dem Imperialismus, den Karl Marx als »prostituierteste und zugleich die schließliche Form der Staatsmacht« erkannt hatte, die nichts anderes ist als »ein Werkzeug zur Knechtung der Arbeit durch das Kapital«.
Gegen faule Kompromisse – für einen klassenbewussten Internationalismus!
Die »Antinationalen« formulieren ihren »internationalen Antinationalismus« auf Grundlage einer um das Klassenverhältnis verkürzen Kapitalismuskritik, die nicht den Klassenkonflikt, sondern allein Ideologie ins Zentrum stellt. Daraus folgt eine abstrakt-allgemeine Gegnerschaft zu »Staat, Nation, Kapital«, die bestenfalls auf politische Äquidistanz in Fragen globaler Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse hinausläuft. Konkret-politisch sind die »Antinationalen« jedoch alles andere als indifferent: Ihr Antinationalismus richtet sich so gut wie nie gegen den Militarismus, die nationalistische Mobilmachung der NATO und EU-Staaten oder deren Verbündeter − den Machtblock, der die Hauptverantwortung für den Erhalt des globalen kapitalistischen Systems trägt. Er richtet sich vorrangig gegen friedensbewegte und antiimperialistische Linke, die unter dem Deckmantel der Bemühung um vorgeblich zeitgemäße, transnationale Solidarität aggressiv bekämpft werden. Der »internationale Antinationalismus« beschweigt die imperialistische Politik der Bundesregierung etwa in der Ukraine und den mörderischen Nationalismus ihrer Bündnispartner, engagiert sich aber mit großer Emphase im Kampf gegen Salafisten und den »Islamischen Staat«, der – hier werden »antideutsch«-neokonservative Kontinuitäten besonders deutlich – nicht als Produkt des US-Imperialismus, sondern als Antithese zum vermeintlich zivilisierten Westen, als antimoderne Reaktion verstanden wird. Der »Internationalismus« der »Antinationalen« kommt also modern und radikal daher, lässt die Machtstrukturen des NATO-Imperialismus jedoch mindestens unangetastet, ist kompatibel mit der deutschen Staatsräson und läuft unweigerlich auf die Neutralisierung revolutionärer Politik und die weitere Integration der Linken in den herrschenden transatlantischen Konsens hinaus.
In diesem Sinne ist die Aufklärung über Inhalt und Konsequenzen des »internationalen Antinationalismus« auf Seiten der Internationalisten dringend geboten. Das allein reicht jedoch nicht: Auch Zustand und Ausrichtung der antiimperialistischen Linken sowie die Motive internationalistischer Gruppen und Medien – wie z.B. des Lower Class Magazines oder der Radikalen Linken Berlin –, sich der Politik »antinationaler« Gruppen zu öffnen, bedürfen einer kritischen Diskussion und müssen Gegenstand der Auseinandersetzung sein. (2)
Die zunehmend aggressive und militarisierte deutsch-europäische Außenpolitik, die Zuspitzung der Konfrontation mit Russland wie auch die Eskalation diverser sozialer Konflikte in und außerhalb Europas lassen erwarten, dass linke und internationale Solidarität als ein zentrales Feld antikapitalistischer Politik künftig noch an Bedeutung gewinnen wird. In diesem Sinne ist es dringend nötig und begrüßenswert, dass Debatten über einen zeitgemäßen Internationalismus angestoßen und entsprechende politische Bündnisse anstrebt werden. Faule Kompromisse mit vorgeblich internationalistischen »Antinationalen«, die in Wahrheit modernisierte »Antideutsche« sind, haben sich dafür als alles andere als nützlich erwiesen. Es ist höchste Zeit, dass Antiimperialisten und Internationalisten das begreifen und sich konsequent der weiteren Vereinnahmung revolutionärer Politik entgegenstellen.
Juli 2016
Assoziation Dämmerung
Anmerkungen
(1) Eine detaillierte Kritik der Postone’schen Thesen über den Zusammenhang von Warenfetischismus und Antisemitismus hat Michael Sommer ausgearbeitet: »Falsch, aber wirkungsvoll. Moishe Postones ›marxistische‹ Theorie des Antisemitismus und der Bruch mit Antikapitalismus und Kapitalismuskritik«, in: Susann Witt-Stahl/Michael Sommer (Hrsg.): »›Antifa heißt Luftangriff!‹ Regression einer revolutionären Bewegung«, Hamburg: Laika Verlag 2014.
(2) Hierzu empfehlen wir den Text »Antinationaler Internationalismus« von Klara Bina, welcher Erfahrungen mit »antinationalen« Gruppen in Frankfurt am Main verarbeitet und auch Probleme der antiimperialistischen und internationalistischen Linken herausarbeitet: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2016/06/antinationaler-internationalismus/